: Konzentrische Ambiguitäten
Seit 40 Jahren dreht Walter Ungerer experimentelle Filme und macht Medien-Kunst. Das Lichtmess zeigt heute Abend in seiner Anwesenheit eine Werkschau des US-amerikanischen unabhängigen Filmemachers
Seine erste Filmkamera bekam er Mitte der 50er in die Hand. Damals studierte Walter Ungerer, 1935 als Sohn deutscher Immigranten im New Yorker Stadtteil Harlem zur Welt gekommen, gerade Kunst und Architektur am Pratt Institute. Filmkurse gab es nicht, und so brachte er sich kurzerhand alles selbst bei. Nachdem er einige Zeit als freier Kameramann, Keramiker, Bildhauer und Maler gearbeitet hatte, drehte er seinen ersten Streifen als unabhängiger Filmemacher 1964 – eine persönliche Dokumentation über ein Roadster-Auto, die Männer die es bauten und mit ihm einen Weltrekord fuhren.
Da unterrichtete er längst Filmproduktion an der Columbia University. Als eine Übung für seine Produktions-Klasse begann denn auch die fünfteilige „Oobieland“-Serie. Schon der erste Teil, 1969 fertig gestellt und mit Preisen überhäuft, zeigt dabei deutlich, woran Ungerer bis heute interessiert ist. Mit handbemaltem Film, Animationen und einem erfindungsreichen Soundtrack verknüpft „Introduction to Ooobieland“ sich wiederholende Serien von Bewegungen vom Gewohnten und Sicheren zum Unbekannten und Gefährlichen – Zyklen, die unabgeschlossen bleiben, eine Jagd ohne Ende: Der Tag endet ohne das Versprechen der Wiedergeburt. Zurück bleibt das Wissen um eine Welt, die Freiheit niemals durch den Abschluss von Handlungen, Sicherheit nie durch die Heiligsprechung von Orten erlangt.
1969 zieht Ungerer nach Vermont um. Seine Filme werden länger, kontrollierter und langsamer. Wenn auch minimal, so erzählen sie nun Geschichten. Etwa die eines Mannes und einer Frau, die sich in „The Animal“ an einer verlassenen Bahnstation treffen. Bis die Frau einen Traum hat – und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Nichts wird erklärt. Was bleibt, sind Fußabdrücke im Schnee und eine Serie konzentrischer Ambiguitäten: Mysterien, die beginnen, aber nie eine Antwort finden.
In den letzten Jahren wendet sich Ungerer zunehmend dem Computer zu. Wie zu Zeiten von „Oobieland“ zeichnet er nun wieder – auf dem Bildschirm. Der Film „Kingsbury Beach“ von 1999 etwa begann als Test der „Media 100“-Software und ihrer Möglichkeiten und entwickelte sich langsam durch Schichtung von Foto- und Filmmaterial. Aber auch heute bleiben die Tools und Techniken ein Mittel, um bei der ZuschauerIn eine Erfahrung hervorzubringen: das Rätselhafte – ohne Chance auf seine Auflösung.
Heute Abend ist Walter Ungerer auf der Werkschau im Lichtmess zu Gast. ROBERT MATTHIES
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