Der Tierfreund

Er war mal der „Bürgermeister vom Stuttgarter Platz“, nun ist Gerhard Jendro tot. Vor zehn Jahren suchte der Berliner Gangster einen Ghostwriter für seine Biografie und erzählte unserem Autor sein Leben. Allerdings mit einer Drohung: Wenn dieser als Journalist etwas preisgebe von dem, was er ihm erzählte, werde er umgelegt. Bei Jendro durfte man davon ausgehen, dass er es ernst meinte. Deshalb wird der Text erst jetzt veröffentlicht

Als „Bürgermeister vom Stuttgarter Platz“ hatte er die Kneipen und Bordelle unter sich Einen Joint nach dem anderen raucht er, die Kippen liegen vor ihm auf dem Steinfußboden

VON THOMAS FEIX

Seit Langem, sagt er, wendet er sich den einfachen Dingen zu. Gerhard Jendro ist dreiundsiebzig, und er hat sein Herz an einen Kater gehängt, an einen gewöhnlichen schwarzgrauen Hauskater. Halbverhungert ist er gewesen, als Gerhard ihn vor drei Jahren aus einer Mülltonne gezogen hat.

Er hat ihn von Flöhen befreit, hat ihn gepäppelt und gehätschelt, und Carlo ist nicht wieder gegangen. Vor vier Wochen verschwand er plötzlich. Gerhard hebt die Hand, an der ihm der Ringfinger fehlt. „Der Taubenzüchter von da drüben war es. Hat ihn vergiftet.“ Er macht eine Krallenbewegung mit der Hand. „Wie Katzen so sind.“

Gerhard will abwarten. Vielleicht taucht Carlo doch wieder auf. Als Erstes zischt er zwischen den Latten des Zauns hindurch, dann durch Hecke und Gras und schließlich, husch, in den Korb hinein. So wie früher. Früher ist außer Carlo auch Hexe da gewesen, eine Kampfhündin, eine Kampfmaschine, ein Kampfroboter.

Aber Hexe ist nicht mehr, und Gerhard erzählt sie gern, die Sache mit den Männern vom Sondereinsatzkommando und wie sie ihn abholen wollten und Hexe toben sahen und wie sie ihn, Gerhard, vom Zaun aus riefen, statt zu stürmen, und ihn darum baten, den Hund anzuleinen, bevor sie hereinkämen. Solche Geschichten verschaffen ihm Genugtuung, und er fühlt den ewigen Kämpfer in sich.

Gerhard ist groß, einsneunzig, und er mag es, wenn jeder „Bürgermeister“ zu ihm sagt. Dann lacht er, und die Falten im Gesicht und am Hals lachen mit. Er sagt, dass er die letzten sechzig Jahre erst als Soldat der Waffen-SS-Division „Hitlerjugend“ erlebt hat, dann als Fremdenlegionär und als Bankräuber. Später, als „Bürgermeister vom Stuttgarter Platz“, hatte er die Kneipen und Bordelle im ältesten Rotlichtviertel im Berliner Westen unter sich, Schutzgeld kassieren, Streit schlichten.

Als Ruheständler nun ist er um die Tiere besorgt. Mit Hintersinn. „Nicht einmal Wespen töte ich. Die können doch so schön ungestraft Polizisten stechen.“ Da lacht er wieder.

Im Berliner Stadtteil Charlottenburg gehört ihm ein buschbewachsener und von Bäumen bestandener Streifen Landes mit Laube zwischen der Stadtautobahn und den Gleisanlagen der Bahn. Eine Gasse aus Pflastersteinen der Weg, der zu ihm hinführt.

Gerhard sitzt im Schatten eines Strauchs auf der Gartenbank, vor sich den Gartentisch, neben sich einen Blecheimer, Flaschen drin, die leer getrunken sind. Bis auf das Vorüberrauschen der Züge ist es still. „Frag, aber frag nichts über die Legion.“ Die Legion ist tabu. Legio Patria Nostra. Die Legion ist das Vaterland, und Hochverrat an ihr begeht derjenige, der über sie spricht.

Bubi biegt schnaufend um die Ecke und lässt sich zu Gerhard auf die Bank fallen. Reißt sich eine Flasche aus dem Beck’s-Gold-Sixpack auf dem Tisch, öffnet sie, gluckernd läuft die gelbe Flüssigkeit durch seine Kehle.

Bubi, das Diminutiv täuscht. Ein Kerl wie ein Bergmassiv. Auf runden, kräftigen Schultern ein gedrungener Kopf mit starken Kiefern, und um Oberarme und Schenkel herum schwillt das Fleisch. Über vierzig, strähnchenblond, offenherziger Blick. Bubi ist da, wo Gerhard ist, oder zumindest in der Nähe. Ohne Bubi gäbe sich Gerhard nur halb so selbstbewusst.

Er redet immer zuerst, und dann ist Bubi dran. Gerhard redet, und Bubi nickt oder ruckelt mit den Schultern, dann räuspert er sich, schnippt die Asche von der Zigarette und ergänzt Gerhards Vortrag, wenn nötig – was aber selten ist. So kommt es, dass Bubi raucht, während Jendro Monologe hält.

Bei der Waffen-SS, sagt er, hat er das Töten gelernt, und bei der Legion, es zu vervollkommnen. Er hat gelernt, wie in der Wüste zu überleben und wie im West- und im Ostgefängnis zurechtzukommen ist. Wie mit konkurrierenden Zuhältern zu verfahren ist und wie mit Huren, die betrügen. Und dass es heutzutage sinnlos ist und quasi selbstmörderisch, eine Bank zu überfallen. „Da sind die Bullen sofort da, und sie kriegen dich, verlass dich drauf“, fällt Bubi mit heller Stimme ein.

Was haben Sie noch gelernt? „Sag noch einmal ‚Sie‘ zu mir, und ich hau dir eine.“ Gerhard grinst, Bubi blinzelt. Gerhard will Kumpel für alle sein, und alle sind Kumpel für ihn, die Polizei ausgenommen, natürlich. Vertrauen gegen Vertrauen. Das ist der Kodex. Bis dass die Gegenseite ihn verletzt.

„Alles, habe alles gelernt, Demokrit, Platon, Aristoteles, Locke und Kant. Hegel, klar.“ Gerhard wirft die Namen wie Argumente aus. Er will die Summe seines Lebens ziehen und die der Epochen gleich mit.

Er gerät ins Schwärmen. Ein Ghostwriter wäre schön. Einer, der ihm alles aufschreibt, und er, Gerhard, würde ihm die Sentenzen derart diktieren, dass die Feder nur so flöge. Und später Korrektur lesen und sagen, das da habe ich so nicht gesagt, und dort, ja, dort, da sollte es präziser kommen. Ein Ghostwriter muss her. Wie ihn die anderen Größen haben.

Gerhard betrachtet sich als dazu berufen, zu sagen, wie es in den zurückliegenden Jahrzehnten war und wie folglich die Welt von heute zu beurteilen sei. Es ist ihm ernst damit.

Er verharrt, den Mund halb geöffnet, den Blick nach innen gerichtet, und wieder hat er die Hand erhoben, an der ihm der Ringfinger fehlt. Vielleicht hat er gerade eine Vision und sieht sich unterm Blätterdach des Strauchs dasitzen, und die Sonne zeichnet Flecken wie Ornamente ins Gras, und die Bedürftigen kommen und holen sich seine Weisheiten bei ihm ab. Vielleicht denkt er auch bloß an Hexe selig, die ebenfalls immer ein gutes Argument gewesen ist.

Wie aber war das mit den Luden, Huren und Freiern am Stuttgarter Platz? „Geh mir mit dem Dreck.“ Etwas schleift auf einmal in seiner Stimme. Bubi schweigt, massig und kurzatmig, und zieht an der Zigarette. Gerhard will mit dem Anfang beginnen, mit der Wurzel des Übels. Es geht um die Wahrheit.

Doch wo ist der Anfang, und was kommt am Ende dabei heraus? Gerhard segelt los, die Klippen auf seinem Kurs kümmern ihn nicht, und Bubi staunt. Gerhard wünscht sich Menschen, die ihm zuhören und dabei staunen, wie Bubi ihm immer zuhört und dabei staunt. Gerhard der Welterklärer kann Widerspruch nicht ausstehen. Er hat genug, und Bubi muss fort. Gerhard steht auf und geht die Baumreihe entlang am Schild „Vorsicht! Gefährlicher Hund!“ vorbei in sein Haus, zum Chefsessel hin und zum Fernseher, der ständig läuft.

Aber das Haus ist nur eine Art von Bungalow, und der Hund ist auch nicht gefährlich. Es ist bloß Susi, eine lustlos kläffende Promenadenmischung. Sie ist in dem Alter, in dem Anfälle von Fressgier das Einzige sind, was die Kreatur noch belebt. Susi tappt zu ihrem Lager zurück, einer speckigen gefalteten Steppdecke, und sinkt schwer auf den kahlen Hängebauch.

Gerhard macht sich ein neues Bier auf und fängt unter der Fotografie des älteren Bruders in Hitlerjungenuniform mit der Kindheit an, mit der „Nationalpolitischen Erziehungsanstalt“. Dreizehn war er, sagt er, und ein aufgewecktes Kind, das sich die Philosophennamen merkte, die die Lehrer im Mund führten. Dass das Regime dann keine andere Verwendung mehr für ihn hatte, als ihn an die Front zu schicken, erfüllt ihn nach wie vor mit Verdruss. „Ich hätte wer weiß was werden können, alles.“ Alles, da ist es wieder.

Einen Joint nach dem anderen raucht er, die Kippen liegen vor ihm auf dem Steinfußboden. An einem Haken über seinem Kopf der gleiche Eimer wie im Garten, auch er mit leeren Flaschen gefüllt. Bücher verstauben in Wandregalen, unter ihnen eines, das „Liebeslehre“ heißt, dann zehn Bände „Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1939–45“. Kein Grün, dafür auf dem Wohnzimmertisch noch mehr leere Bierflaschen. In der Stunde null hatte Gerhard dagestanden, vierzehn Jahre alt, ohne Schulabschluss, ohne Beruf, Naziideologie nur und Krieg. Bald war er Anführer einer Bande. Überfiel nachts amerikanische Soldaten, die zusammen mit ihren deutschen Freundinnen um den Lietzensee herumspaziert waren, raubte sie aus und demütigte sie. „Den Weibern, den Schlampen, haben wir rote Farbe ins Haar geschmiert und die Amis nackt ausgezogen. Dann davongejagt. War das immer ein Spaß.“ Es war überhaupt nicht schwierig, sagt er, und wie wunderbar es wäre, wären Carlo, der Kater, und Hexe jetzt bei ihm.

Und weil es leicht war, leichter als irgendwas, deshalb folgten darauf Bankraub, Drogenhandel und Zuhälterei. 1962 eines Raubüberfalls wegen mit Haftbefehl gesucht, erzählt er, floh er aus Westberlin in die Deutsche Demokratische Republik. Die Warnung kam von einem alten SS-Kameraden, der zum Leiter einer Polizeidirektion aufgestiegen war. Erst erhielt Gerhard die DDR-Staatsbürgerschaft und Arbeit bei den Leipziger Verkehrsbetrieben, dann kamen die Werber des Ministeriums für Staatssicherheit. Gerhard lehnte es ab, dem Geheimdienst als Inoffizieller Mitarbeiter zu dienen.

Den Ringfinger, sagt er, hat ihm die Stasi genommen. Nachdem er zu einem Parteifunktionär gesagt hatte, hör mal, du siehst wie ein vollgefressenes SED-Schwein aus, stand ein Verhaftungskommando vor ihm auf der Straße. Gerhard wehrte sich, die drei Männer prügelten und traten ihn zusammen. Als er aus dem Koma erwacht war, bemerkte er, dass der Finger weg war.

Bautzen I, das Zuchthaus, hat er nie von außen gesehen. Aber die Bilder von drinnen hat er im Kopf. Die Grabesstimmung war das Schlimmste, das und die Unruhe beim Warten auf das nächste Essen. Er spürt die alte Angst in die Augen steigen, sie sind voller Erinnerung, er sagt: „Ich kann nicht mehr“, und rote Flecken treten ihm auf Hals und Gesicht. Viereinhalb Jahre hatte er staatsfeindlicher Hetze und Terrorhandlung wegen bekommen.

Nach Verbüßung der Haft 1970 schob ihn die Staatssicherheit nach Westberlin ab, ohne ihn deshalb aus dem Blick zu verlieren. Die Hauptabteilung XXII, Terrorabwehr, beobachtete ihn bis in den September 1989 hinein. 1971 wurde ein Anschlag auf ihn verübt. Im Flur des Charlottenburger Mietshauses, in dem er wohnte, traf ihn ein Pistolenschuss in den Bauch.

Dann kam seine Glanzzeit, die 70er, 80er, ein Teil der 90er. Lamborghini und Ferrari hat er gefahren, ist mit einer Prostituierten zusammen gewesen, er zeigt Fotos von ihr und den Autos. Ihm war alles recht, wenn es ihm nur Gewinn einbrachte und Ansehen unter den Ganoven. Zwischendurch saß er immer wieder in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel ein.

Rot gemustertes Halstuch, Schirmmütze, Motorradjacke, Jeans. Gerhard gefällt sich in der Pose des Flegels, des Raubeins, und verzichtet nicht auf den Gebrauch der Wörter Fotze, Kanake und Politikerpack. „Warum? Weil ich ehrlich bin. Das ist, als ob du ‚Scheiße‘ sagen würdest.“ Und er lacht dröhnend und jovial, und als er damit fertig ist, wird sein Bürgermeisterblick kalt und flach. „Wer auf mich drauflatscht, latscht auf einen Skorpion.“

Für den Ernstfall hat Gerhard einen Plan, einen Fluchtplan. Er wird ihn nach hinten hinausführen, über die Bahnschienen hinweg auf unübersichtliches Gelände. Der Ernstfall, sagt er, wäre zuletzt die Polizei. Er weiß, wie er mit der Stupsnase vorzugehen hat, mit der 38er Smith & Wesson, die er stets dabeihat. Er darf nur keine Zeugen am Leben lassen. Dass er den Colt je benutzt hat, will er nicht bestätigen.

Mit allem, was er sagt, scheint Gerhard um Glaubwürdigkeit zu ringen. In Wirklichkeit bedeutet sie ihm nichts. Wichtig sind ihm das Bild eines außergewöhnlichen Mannes und das Geld, zu dem ihm eine gedruckte Biografie verhelfen soll. Lücken sind da, die er nicht füllen kann oder nicht füllen will, die Zeit bei der Waffen-SS, bei der Fremdenlegion. Er will für sich einnehmen, Interesse wecken, er trumpft auf, bringt Daten und Namen durcheinander. Was dabei herauskommt, ist ein Unikum. Vordergründig.

Zu Bett geht er mit einer Pumpgun, Kaliber 12 Millimeter, mit dem gröbsten Schrot geladen, das es gibt, 0/0. Riesige Löcher reißt das, und auf dem Nachttisch „Mein Kampf“, Originalausgabe von 1939. An der Wohnzimmerwand gegenüber vom Sessel sind Dutzende von Einschlägen zu sehen, Kugeln aus einem Gewehr, Gerhards Übungsgewehr, Luftdruck mit Zielfernrohr.

„Sei Egoist, werde Mensch! G. Jendro“, steht inmitten von ihnen mit schwarzer Farbe geschrieben. Gerhard geht vor die Tür und uriniert über den Treppenabsatz hinweg in den Hof. Er hat es mit der Prostata, er ist froh darüber, wenn er wie ein Mann gepinkelt hat, im Stehen und nicht im Sitzen.

Hinter dem Bungalow sind sieben Hunde begraben und eine Katze, alles Gerhards Tiere gewesen. Nacheinander sind sie von ihm gegangen. Was wird sein, wenn auch noch Susi geht? Gerhard lehnt im Sessel, ein platt gedrücktes Kissen unterm Hintern. „Darüber will ich gar nicht erst anfangen nachzudenken.“ Ratlos wirkt er jetzt und einsam. Ein Führer, dem das Gefolge abhandengekommen ist.

Er blickt ins Zimmer, dorthin, wo Carlos Kratzbaum ist. „Wenn du das aufschreibst, was ich dir erzählt habe, leg ich dich um. Vertrauen gegen Vertrauen, das ist der Kodex.“ Offenherzig wie Bubi sieht er dabei aus, und die Füße stecken in Arbeitsstrümpfen, an denen die Stulpen abgeschnitten sind.