Pflücken verboten!

Auf der Suche nach der blauen Blume in der Natur und in uns selbst: Glaubt man den Bestsellerlisten, ist das Wandern wieder des Volkes Lust. Aber warum eigentlich? Ein Selbstversuch im Siebengebirge

VON MARTIN REICHERT

„Es blühet im Walde tief drinnen die blaue Blume fein, die Blume zu gewinnen, ziehn wir in die Welt hinein. Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss, und wer die blaue Blume finden will, der muss ein Wandervogel sein.“

(„Wir wollen zu Land ausfahren“,

Text: Hjalmar Kutzleb)

Mit zweihundert Stundenkilometern in Richtung Entschleunigung: mit dem ICE von Berlin nach Bonn die Landschaft durchschneiden, um im Siebengebirge beim Wandern zu sich selbst zu finden. Das eigene Tun muss schließlich in einem Sein gründen! Martin Heidegger kam zwecks Naturerfahrung immer mit dem Bus von Freiburg in den Hochschwarzwald gefahren. Auch nicht besser.

Zu Hause in Berlin frei nach Hape Kerkeling einen Zettel hinterlassen, „Bin dann mal weg“, der Aufforderung Manuel Andracks folgend: „Du musst wandern!“ Na gut. Geschwind das Ränzlein geschnürt, darin Erbswurst von Knorr, Capri-Sonne mit Strohhalm, die „Mundorgel“ und ein schwerer, neuerschienener Wälzer von Ulrich Grober: „Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst“. Zumindest theoretisch müsste das Buch der kommende Verkaufsschlager werden: Das Wandern, früher als zutiefst christdemokratisches, piefig-spießiges Rentnerhobby verschrien, erfreut sich wieder allgemeiner Popularität – wenn die Listen, auf denen die aktuellen Bestseller vermerkt sind, recht haben.

Hurra! Das letzte hartgekochte, schwefeldünstende Ei ist verspeist und das Ziel schon in Sicht: Königswinter am Rhein, gelegen am Fuße des Siebengebirges mit seinen 40 Bergen und Anhöhen. Und 200 Kilometern Wanderwegen. Der „Rheinsteig“ führt von hier bis nach Wiesbaden. Wenn nur die hochfrequentierte Bahnstrecke nicht wäre. Gut fünfzehn Minuten und 500 Güterwaggons später öffnen sich die Schranken, und die Suche nach der blauen Blume kann beginnen. Allerdings: Würde man sie finden, man dürfte sie nicht pflücken. Naturschutzgebiet! Eigentlich alles verboten hier, sagt ein moosüberwuchertes Schild am Fuße der ersten Anhöhe. Vorbei am Verbotsschild und mitten hinein in den deutschen Wald, dessen Wege – wohl aus versicherungstechnischen Gründen? – mit Granulat bestreut sind. Selbst das Flüsslein murmelt durch eine Betonrinne.

Wie geht das nun mit dem neuen Wandern? Das alte kennt man ja nur noch aus der Grundschule, vielleicht noch von der obligatorischen Nachtwanderung während der Konfirmandenzeit. Lauter pubertierende Scheinheilige mit Taschenlampe irren durch den Forst. Doch nun wandern sie alle: ob alt, ob jung, ein Stock, ein Hut, ein Regenschirm. Ein neuer, alter Volkssport: Bergwandern, Fernwandern, Nordic Wandern, Sportwandern, Volkswandern, Barfußwandern, selbst Nacktwandern soll sich auf abseitigen Routen wachsender Beliebtheit erfreuen. Ähnlich populär ist nur noch das Bücherschreiben, weshalb fast jeder Wanderer eines verfasst. Über das Wandern.

Das neue Wandern. Grober sagt, es gehe nicht darum, dass man sein Ziel erreicht, sondern darum, wie man es erreicht. Alles, was man braucht, solle man bei sich tragen (Rucksack!), und es sei wichtig, auf die Pendelbewegung zwischen Introversion und Wahrnehmung der Außenwelt zu achten, die durch das Gehen angeregt werde. Steht in der Zusammenfassung am Schluss; warum hat man bloß nie Zeit, so ein Buch mal ganz und in Ruhe zu lesen? Blöde beschleunigte Moderne, aber deshalb sind wir ja schließlich hier.

Nach den ersten zweihundert Metern Waldesrauschen ist die Außenwelt schon wieder ganz schön penetrant: Ein Wanderbruder im TCM-Trekking-Outfit kommt aus einer vermeintlich idyllischen Höhle, die er für seine Notdurft missbraucht hat, und nimmt auf einer Bank Platz. Die Bank ist angekettet. Aus welchem Material sind bloß diese Klamotten, Neopren? Gore-Tex? Titan? Neuer Introversionsversuch nach der nächsten Weggabelung.

Nachdenken über die blaue Blume. Symbol der Romantik! Novalis! In der blauen Blume verbinden sich nicht nur Natur, Mensch und Geist, sie symbolisiert auch das Streben nach der Erkenntnis der Natur. Und daraus folgend: nach der Erkenntnis des Selbst. Joseph Freiherr von Eichendorff, Adelbert von Chamisso, sie alle waren auf der Suche nach ihr, der Landschaftsmaler Fritz von Wille hat sie sogar zum Entzücken Kaiser Wilhelms II. gemalt. Vielleicht ist sie ja tatsächlich hier im Siebengebirge zu finden, einem der ältesten Naturparks Deutschlands.

Schon 1869 hatte sich der „Verschönerungsverein für das Siebengebirge“ (VVS) gegründet, der noch heute – unter anderem neben der Mannesmann AG – Mitbesitzer des Areals ist und Bänke ankettet. 1922 wurde das Siebengebirge vom preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung sowie für Landwirtschaft und Forsten zum Naturschutzgebiet erklärt. Schon damals gab es Superministerien, und schon damals war es mit der authentischen Natur offensichtlich nicht mehr so sehr weit her.

Es ist wie mit dem Osterhasen: Eines Tages beim Osterspaziergang kam die Erkenntnis, dass die im Moosbett des Waldes liegenden violetten Milka-Eier aus der Manteltasche des wurfgeübten Vaters stammten. Zu allem Unglück kam auch noch ein Förster im Geländewagen, der zur Ruhe mahnte, damit die forstwirtschaftlich gehegten Rehe nicht gestört würden. Deutscher Märchenwald? Wenn das Hermann Löns gewusst hätte. „Isegrims Irrgang“, die Geschichte eines wilden Wolfs, der, bedingt durch die Zivilisierung der deutschen Wildnis, nach Russland emigrieren musste, ist heute aktueller denn je: Kommt ein Bär daher, wird er gleich als Problembär abgeknallt, kommt ein weißes Reh, singt Stefanie Hertel, und Stefan Mross tut so, als ob er Trompete dazu spielt. Damit „Rehweißchen“ nicht auch noch erschossen wird.

Die nächste Bank ist endlich mal frei, im deutschen Wald rennen mehr Menschen herum, als man denkt. Dabei ist bereits Anfang November und das Wetter trüb. Der Schweiß läuft schon den Rücken herunter, das muss am Klimawandel liegen. Sagt auch Ulrich Grober: „Öl wird knapp, Benzin teuer, Kerosin auch. Das Klima wird turbulent, nicht zuletzt als Folge unserer schrankenlosen Mobilitätsansprüche.“ Er sagt, dass unsere Lebensweise in ein Chaos aus Verelendung, Gier, Schäbigkeit und Gewalt abstürzt. Auf den Schrecken erst mal eine Capri-Sonne, gekauft bei Edeka in Berlin-Neukölln. Grober preist jedoch das Wandern als „Überlebensstrategie“, schließlich sei auch die Körperkraft eine „erneuerbare Energie“.

Was ein rechter Wandervogel ist, muss also auch essen! Der Versuch, in die Erbswurst zu beißen – ein Klassiker der Wandervogelbewegung –, scheitert kläglich. Ist keine Wurst, sondern gepresstes Trockengemüse mit Brühe, das man „abkochen“ müsste. Womöglich unter Zuhilfenahme fossiler Brennstoffe. Die sind zwar in unmittelbarer Umgebung durchaus vorhanden, ihre Verwendung ist jedoch laut Schild streng verboten. Eine Extremsituation: Hunger! Was würde Reinhold Messner jetzt tun? Geschwind zum Grober gegriffen: „Das Fasten wäre eine klassische Übung in Selbstmächtigkeit, auch der Sport. Entscheidend ist das Moment der freiwillig auferlegten Askese.“

Alsbald heißt es wählen zwischen zwei sich bietenden Wegen, von denen der eine weniger begangen scheint als der andere. Die Entscheidung fällt in einem Anflug neu erworbener Selbstmächtigkeit zugunsten von Letzterem, weil dieser laut Beschilderung zum „Milchhäuschen“ führt. Endlich wieder „Herr der Lage“, „autonom“ und frei von allen Zwängen, die der Alltag einem auferlegt, geht es den Berg hinauf in Richtung Gastronomie. Schon ganz dicht dran am eigenen Selbst, nach nur zwei Kilometern?

Die nächste Begegnung mit der Außenwelt bugsiert das Pendel gewaltsam und ruckartig in Richtung Introversion: Der Mountainbiker, der mit einem Affenzahn und neonfarbenenen Radlerhosen um die Ecke schießt, hätte einen fast umgenietet. Vorbei wäre es womöglich gewesen mit dem „Sein“. Die eigene Autonomie reicht eben bloß bis zum Lenker des Nachbarn, und an allem ist nur dieses Pascal’sche Schwungrad schuld: Trügen die Menschen dieses Teil nicht in sich, würden sie mit ihrem Arsch zu Hause bleiben, und die Welt wäre ein Hort des Friedens. Schließlich war das Wandern zunächst eine Bewegung der Aufklärung. Es diente der nachhaltigen Erkundung der Außenwelt, ein selbstbewusstes Bürgertum durchschritt im 18. Jahrhundert Flur und Forst, um Land und Leute kennenzulernen – und nicht nur sich selbst. Lange her, in der wirkmächtigen Tradition der Romantik geht es auch heute noch, glaubt man der einschlägigen Literatur, hauptsächlich um den Weg zum Ich, das aufgrund anhaltender, mittlerweile sogar schon postindustrieller Entfremdung abhandenzukommen droht. Weshalb nun jeder Arsch durch den Wald dackelt.

Völlig durchgeschwitzt und mit schmerzendem Rückgrat – wer kommt eigentlich für diesen völlig rücksichtslosen Gelenkverschleiß auf, insbesondere den der Hüftgelenke? – geht es die letzten verschlungenen Pfade zum Milchhäuschen hinauf. Nur die notorischen Rentner sind mal wieder völlig schmerzfrei, sie überholen hoch auf dem gelben Wagen: bequem in einer Kutsche sitzend, gleich hinterher kommt tatsächlich die Post im Renault Turbodiesel.

Als man endlich oben ankommt, sind alle schon da. Schwer, einen Platz auf der idyllischen Terrasse zu ergattern. Und angesichts der Preise erscheinen auch die ureigentlich kapitalismuskritischen Aspekte des Wanderns plötzlich einleuchtend: Currywurst mit Pommes für zehn Euro! Da muss man erst mal eine rauchen, die zahllosen Mütter mit geländegängigen, dreirädrigen Trekking-Kinderwagen ignorierend. Schließlich sagt auch Grober: „Leben besteht nicht darin, permanent etwas zu tun.“ Wie sind die eigentlich alle hier raufgekommen? Gibt es einen Bus? Der Schweiß rinnt weiter, während die Profis längst die Unterbeine ihrer Gore-Tex-Hosen abgenommen haben, per Reißverschluss: frische Luft für stramme Waden.

Im Milchhäuschen unterhalb des Drachenfelsen kommen sie alle zusammen: die Rentner, die das Wandern noch vom Trommelwirbel ihrer Jugend her kennen – damals zog mit ihnen die neue Zeit oder was man dafür hielt, heute sind sie die Einzigen, die noch Stock und Gamsbarthütchen tragen. Eingefleischte Karl-Moik-Fans in Loden-Frey sitzen neben der Generation Florian Silbereisen, die mit iPod und nordischen Stöcken unterwegs ist. Verdammt lange her, dass Wandern mal so richtig cool war, ungefähr hundert Jahre – zu Wandervogelzeiten zog man mit Goethe im Tornister durch die Lande (und später in den Ersten Weltkrieg), auf den Spuren mittelalterlicher Vaganten und Scholaren, eine irdene Volkskultur beschwörend, die es schon damals längst nicht mehr gab, und wähnte sich als Avantgarde. Bis endlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die wahlweise kulturbolschewistische oder eben westlich-dekadente „Negermusik“ eine jugendkulturelle Revolution einläutete. Übrig von der jugendbewegten deutschen Wanderkultur blieb nur das sozialpflegerische Missverständnis, man könne junge Leute mit Hilfe des „Erlebnisses“ des Wanderns ganz wunderbar für die Ziele der Erwachsenen begeistern – seien sie religiöser, politisch-militärischer oder sexueller Natur.

Im Treck geht es nach der wohlverdienten Pause weiter hinauf, zum Drachenfelsen. Endlich: der Rhein! Und verdammt: Es fährt eine Zahnradbahn hierherauf! Der Blick schweift über die Rheinebene in Richtung Bonn, weiter hinten kann man sogar den Kölner Dom erkennen. Einen Euro in den „Erzählautomaten“, und schon spuckt der Kasten Legenden aus – wenn das Handy nicht geklingelt hätte, wüsste man nun auch, was es mit dem „fiesen Drachen“ so auf sich hat. Irgendwas mit Sprengpulver, das auch dem Ausflugsbetonklotz im Stil der 80er-Jahre nicht schaden könnte. Der Akku der Digitalkamera ist alle, drum bleibt nur Introversion bei einer weiteren Capri-Sonne: Ist denn das Weltall nicht in uns? Ach Novalis! Was wusstest du schon von der metaphysischen Obdachlosigkeit im 21. Jahrhundert. Im Weltall sind längst Satelliten, die Privatfernsehen übertragen, das dann in uns ist. Aber wenn man die Freizeitmenschen durch Wandern ruhigstellen kann und sie dafür nicht auf die Idee kommen, zu beten oder irgendwo einzumarschieren, ist das ja so weit in Ordnung.

Das Wandern ist postideologisch und generationenverbindend geworden – eine mittelanstrengende und im Prinzip preiswerte Freizeitaktivität für Wohlstandsbürger, die man gerne auch als Kurztrip am Wochenende ausübt. Nur Fanatiker rutschen auf blutigen Knien nach Lourdes; moderne Patchwork-Agnostiker mit Hang zu Esoterischem kaufen sich schicke Wanderschuhe, legen einen indischen Schal um den Hals und bezwingen den Jakobsweg in Spanien. Pilgerfahrten zum Mittelpunkt des Selbst. Wandern als prä- oder postfaschistisches Hobby? Wie hieß es noch in einem Theaterstück der legendären Familie Schmidt aus den Achtzigerjahren? Da spricht ein dauernörgelnder älterer Herr: „Die Jugend von heute wandert ja nicht mehr. Mein Gott, was sind wir damals gewandert. Hunderte von Kilometern!“ Sagt die Nachbarin: „Ja. Und die Russen immer hinterher!“

Die jugendbewegten Studenten der späten 60er-Jahre wollten die blaue Blume dann doch lieber rot färben – allenfalls klampfte man noch ein wenig umweltbewegt auf der Burg Waldeck herum. Nur die Genossen von der FDJ im Osten wähnten sich schon wieder als Bannerträger einer neuen Zeit. Bis zum bitteren Ende mit blauem Hemd und kurzen Hosen, immer ein Liedchen auf den Lippen – nur noch eine skurrile Anekdote in den Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger. Die Wanderung als Basismodell politischer Prägung ist so was von tot – wahrscheinlich war es der wandernde Expräsident Karl Carstens, der sie zu Grabe getragen hat. Oder Reinhard Mey. Oder vielleicht sogar Heino mit seinen „Liedern der bündischen Jugend“.

Ja, zum richtigen Wandern gehört auch das Singen. Und um die schmerzenden Kniegelenke zu betäuben, folgt der Griff zur „Mundorgel“ – das kleine, rote Büchlein ist quasi der jugendpflegerische Nachfolger vom „Zupfgeigenhansl“, dem Liederbuch des Wandervogels, randvoll mit Volksliedern. Seit über 50 Jahren herausgegeben vom Christlichen Verein Junger Männer, befand es sich noch in den 70er-Jahren im Besitz jedes zweiten Kindes, so auch im eigenen. Ein protestantisches Liederbuch für Fahrt und Lager! „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“ auf den Lippen, geht es nun den Berg wieder hinunter – mit klammheimlicher Vorfreude auf eine abendliche Kneipentour durch Köln: „YMCA!“

Und die blaue Blume? Ist aus Plastik und kostet 6,90 Euro. Gesehen am Wander-Nippesstand am Fuße des Siebengebirges. Nach dem Abstieg.

MARTIN REICHERT, 33, ist taz-Autor und geht gerne spazieren. Um den Block . . .