Sandkastenspiele: Backe, backe Liebe

Gorkis Sommergäste – ein Stück der Frauen. Sie machen Beziehung und beklagen ihre Beziehungslosigkeit, sie wollen mehr und haben längst viel zu viel

Nach dem Stück atmen wir tief ein, finden zurück ins Leben und zurück zu den belanglosen kleinen Freuden zwischen den Menschen, in denen das Gesagte etwas zu meinen scheint. Wir spitzen erleichtert die Ohren und hören, wie Menschen miteinander sprechen. Im Foyer eine Dame zu einem Mitarbeiter des Schauspielhauses: „Die Kerzen auf den Stehtischen sind aber wirklich schön, die sind neu, nicht wahr?“, „Nein, die haben wir schon immer, aber die frischen Rosen sind neu.“ „Ja, das sieht sehr schön aus.“ Vor dem Ausgang zwei ältere Theaterbesucher, die eilig in die Pedalen treten: „Die eine sah ein bisschen so aus wie meine Tochter Hanna.“ „Welche, die Schriftstellerin?“ „Ja, genau die.“ Es passiert etwas, Gott Lob! Wir sind dabei und lachen befreit auf.

Auf der Bühne: Der große Sandkasten des Lebens, in dem nach Liebe gesucht werden soll. Der eifrig durchsiebt wird, in der Hoffnung auf einen kostbaren Fund „wahres Leben“, einen superschönen zwischenmenschlichen Moment von Zärtlichkeit. Die große Suche nach der „wirklichen Begegnung“ von Mensch zu Mensch, in der eine Geste bedeutungsvoll ist, ein Wort Mitgefühl trägt, vielleicht sogar die Leidenschaft hinfort trägt zu Größerem, wohin auch immer. (Revolution, wie wir wissen.)

Hell ausgeleuchtete Menschwerdung steht auf dem Programm. Das Stück lässt keine Atempause, aus dem Sprachgitter gibt es kein Entrinnen: kein Leben, nirgendwo. Alles wird zur Phrase, die Liebe, die Ehe sowieso. Gestrandete allesamt, am Rande eines Dramas, das uns keines wurde. Das schönste Requisit sind die Stöckelschuhe der Schauspielerinnen. Meine ganze Bewunderung für ihre Fähigkeit, mit den Pantinen durch den Sand zu laufen, als wäre es nichts.

Das Spiel nimmt seinen Lauf und verwehrt sich allen Verhängnissen, bleibt verliebt in die spiegelglatte Oberfläche der großen Worte, hat selbst nicht den Mut zu schweigen, während es fragt, „Haben Sie den Mut zu schweigen?“ (Marja Lwowna). Ich merke mir noch ein paar Sätze, sie stanzen sich wie Poesiealbum- oder auch Grabsteinsprüche in den Kopf: „Wer philosophiert, verliert.“ (Pjotr), „Wir sind alle so widerlich, warum nur?“ (Warwara), „Man hat es so schwer mit den Kindern“ (Olga), „Ich will belogen werden“ (Rjumin).

Es ist ein Spiel der Kinder, sie wissen nicht, was sie sagen, es ist auch nicht wichtig, sie plappern vor sich hin. Welche Farben im Spiel und seinen Wiederholungen gezeigt werden? Vielleicht insbesondere Zynismus, Vulgarität, Menschenverachtung, Melancholie, Altersweisheit, Angst vor dem Alter, die Naivität der Jugend, Poesie, Schwärmerei, Überdruss. Und vor allem: Die eisige Enttäuschung in allen, nicht gefunden zu haben, wonach man suchte.

Da sind die Männer. In jedem Fall Kinder, auch wenn sie wütend werden oder böse vulgäre Sachen zu Mami sagen (das Publikum raunt genussvoll: whow, endlich passiert mal was!) und zu guter Letzt sogar tun, wie man ihnen geheißen hat und den Tisch freiwillig abdecken bzw. sich (fast) selbst ermorden; sie bleiben in ihrer Verzweiflung im Höchstfall sonderbar. Auch das Geschrei, das irgendwann notwendig wird, um den endlosen Schlaufen der wortreichen Klage über das verfehlte Leben zu entkommen, ändert daran nichts. Gegenüber den Frauen bleiben sie hilflose Bittsteller. Untereinander können sie sich nur gegenseitig darin bestärken, dass sie stärker als die Frauen sind, um bei jeder Begegnung doch wieder zu scheitern. Ihre lauthals hervor gezeigte Traurigkeit, Lüsternheit und Wut wirken ausgeliehen. „Geht lieber noch mal zum See schwimmen, Jungs“, möchte man ihnen zuweilen zurufen.

Es ist ein Stück der Frauen. Klar, sie bereiten den Umschwung vor, so ist das wohl immer. Sie machen Beziehung und beklagen ihre Beziehungslosigkeit, sie wollen mehr und haben längst viel zu viel: Kinder, Worte, Schuhe, Liebhaber. Drei von ihnen geben das Beispiel: Im Mittelpunkt des Stücks, nein hoch oben, wenn man den anderen Figuren glauben würde, Warwara, die starke Kühle, die selbst nicht weiß, die Kommentatorin der Kommentare, sie will raus hier. Gut, na geh schon! Nein, das Stück beginnt erst, noch viele Striche müssen in den Sand gezogen werden, bis es schließlich knallt. „Zärtlichkeit, ich will Zärtlichkeit“, sagt auch Warwara und ich frage meinen Begleiter, ob er ihr das abnimmt. Er zögert. Mir bleibt ihr Wollen äußerlich und auch ihr spätes „Ich geh!“ nur eine Fortsetzung der Phrasen.

Dann die immer wieder aus der Sicht der Männer und auch der Frauen mit der bedrohlichen Macht der Unabhängigkeit und einem schneidigen Verstand ausgestattete Marja Lwowna. Schon klar, auch so jemand ist einsam. Wir dürfen auf ihrer nackten Haut auch diese Spielart der Verzweiflung betrachten: Die ungehörige, verbotene Lust einer alternden Frau. Das ist der Preis, der für das eigenständige Leben als Frau zu zahlen ist. Vielleicht geht es ja darum, flüstere ich meinem Begleiter im Dunklen zu (wir wenden uns für einen Augenblick einander zu, stecken die Köpfe zueinander, wie man so schön sagt), unberührt zu bleiben, von der Menschen Freud und Leid, den Spielern gleich.

Ich habe heute wirklich keine Lust, mich ins Fühllose zu begeben. Mir bleibt die Freude an der großartig gespielten Olga (Gabriela Maria Schmeide), die mit ihrer tumben, tüllumhüllten Körperlichkeit einen Restwert Leben in die Bude bringt. Olga, meine Rettung. Olga, die mit ihrem endlosen Mutter- und Eheleid die Normalität und Belanglosigkeit des Daseins vertritt, hält uns in den Stühlen, sie spricht zu uns mit ihren kleinsinnigen Gefühlen, ihre naive Geschwätzigkeit ist das Beste, was gesagt wird, ihre kitschigen Vorstellungen von Glück und deren schönste handgreifliche Umsetzungen vor Ort vermag mehr Sand aufzuwirbeln als alles andere. Danke, Olga. Kirsten Sander
war mit Marc Buggeln im Theater