Wo Es war, soll Anspruch werden

Szenen einer Autoren-Ehe: Stephen King hat seinen 40. Roman geschrieben – sein persönlichstes Buch, findet er selbst und schlendert bei der Buchpräsentation auf dem Broadway im Cowboyschritt aufs Podium. Auf deutsch gibt es „Love“ auch schon

Muss man sich nun echt Sorgen machen, dass er sich vom Populären abwendet?

VON KRISTINA GRAAFF

Einen Monat hatte Stephen King wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus verbracht. Als er heimkehrt und sein Arbeitszimmer betritt, ist er geschockt. Alle Buchprojekte sind in Kisten verpackt und die Möbel mit weißen Tüchern zugedeckt. Seine Frau hatte in seiner Abwesenheit mit dem lang geplanten Renovierungsprojekt begonnen. King aber denkt: „Ich bin schon tot, ich bin der Geist in meinem eigenen Arbeitszimmer.“

King nimmt einen Schluck Wasser. Im New Yorker Symphony Space Theater herrscht absolute Stille. 900 Fans folgen gebannt seiner Anekdote, der Entstehungsgeschichte zu „Love“ – Kings 40. Roman, den er hier auf dem Broadway vorstellt (und der auch gleich ganz schnell ins Deutsche übersetzt wurde; Heyne Verlag). Über sechs Stunden haben sie geduldig in der Winterkälte angestanden, um eines der signierten Bücher zu ergattern und seinen Erlebnissen zu lauschen. Sie werden nicht enttäuscht. Der Horror-Autor ist auf der Bühne genauso unterhaltsam wie in seinen Büchern. Schlendert im Cowboyschritt aufs Podium, macht eine lässige Zeigegeste ins Publikum und bedient mit Baseballwitzen und Bush-Bashing den liberalen US-Leser-Mainstream. Ohne Frage wird King als – wenn mit seinen mittlerweile 59 Jahren auch gealterter – Rockstar des amerikanischen Literaturbetriebs gefeiert. Selbst die Lesung erinnert an ein Konzert. Wenn der Autor laut darüber sinniert, wie doch gleich der Titel seines dritten Buchs war, setzen die Fans ein, als ginge es darum, einen lang erwarteten Refrain mitzugrölen.

Der neue King aber will mehr als nur seine eingeschworenen Fans glücklich machen, will mehr als einen unterhaltsamen Horrorthriller nach dem anderen herunterschreiben, weil das für ihn schon lange keine Herausforderung mehr ist. Sein aktueller Roman „Love“ ist dieser Freischreibversuch, mit dem er nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Kritikern beweisen will, dass Komplexeres in ihm steckt als leicht konsumierbare Gruselstorys wie „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“ oder „Shining“.

„Love“ ist Kings bisher persönlichste Geschichte, auf äußere Handlungen verzichtet sie weitgehend. Stattdessen konzentriert sie sich ganz auf die Erinnerungswelt der Witwe Lisey, während diese (genau wie in Kings inspirierender Geistervision) das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes und Horror-Autors Scott Landon aufräumt. Wie King berichtet, hat seine Ehefrau, eigentlich seine effektivste Lektorin, den Roman kommentarlos beiseitegelegt, weil ihr die Geschichte dann doch zu sehr nach einem Vorgriff auf ihr eigenes Leben erschien.

Für King, dem es sonst immer mehr um Inhalt als um Erzählstil ging, ist „Love“ ausgesprochen experimental geraten. In unzähligen Neuwortschöpfungen und Wortspielen – den geheimen Codes zwischen Lisey und Scott – zeigt er, wie Sprache in einer langjährigen Beziehung eine gemeinsame Welt schaffen kann. Doch diese Wortwelt kann auch quälen, wie Lisey bei der Durchsicht von Scotts Notizen feststellen muss. In der Erinnerung an Scotts Fantasiebegriffe kehren reale Ängste zurück, die nun von ihr verarbeitet werden wollen: „Bad-Gunky“, sein Kindheitstrauma, personifiziert als „Ding mit der gescheckten Seite“, und die mysteriöse Schattenwelt „Boo’ya Moon“, aus der Scott zu ihr zu sprechen scheint.

In poetisch anmutenden Beschreibungen lässt King Lisey tiefer in Scotts Psyche eindringen und vor ihr zurückschrecken: „Ich muss diese Erinnerungen schnell loswerden. Wenn nicht, wird etwas viel Schwereres als Schnee über mir zerschmettern.“ Und in dem Maße, wie sich Liseys Gedanken verwirren, enden Kapitel mitten im Satz oder bestehen überhaupt nur aus drei Zeilen – King hat sich stilistisch weit hinausgelehnt.

Dennoch erscheinen seine literarischen Fähigkeiten begrenzt. „Seine Sprache ist so gespickt mit Baby-Talk, dass es ans Pathologische grenzt“, findet die New York Times, und auch King scheint das zu ahnen, wenn er im Anhang erklärend schreibt: „Vieles kommt aus meinem Herzen, wenig ist wirklich klug.“

Allerdings kommt einem „Love“ gerade durch die sprachlichen Unzulänglichkeiten vor wie sein ehrlichstes Buch. Ob er damit neue Leser erreichen oder seine Kritiker überzeugen kann, bleibt jedoch fraglich – trotz der optimistischen US-Erstauflage von über einer Million. Vor allem die Lektüreerfahrung, die King mit Gedichten von D. H. Lawrence, Richard Wilbur und James Dickey gemacht hat, habe ihm geholfen, einen so sprachbezogenen Roman zu schreiben, meint King selbst. Dennoch müssen sich seine Fans keine Sorgen machen, dass er sich ernsthaft vom Populären abwenden will. Er ist tief im amerikanischen Mainstream verankert, macht Werbung für American Express und verbreitet seit 2003 in der Zeitschrift Entertainment Weekly über die Kolumne „The Pop of King“ seine Meinung zu neuen Hörbüchern, Diäten und Fernsehserien.

Dass King nach „Love“ – wie bereits vor vier Jahren angekündigt – in Schriftstellerpension gehen könnte, ist nicht zu erwarten: „Ohne Schreiben träume ich schlecht, habe Migräne und bin auch sonst unausstehlich“, sagt er. Zum Glück!