„Puppenhausfaschismus“

Der brillante Film „Jeder schweigt von etwas anderem“ erzählt von der schwierigen Erinnerung von Menschen, die die DDR als Staatsfeinde ansah (So., 21.15 Uhr, 3sat)

Das Ladenlokal im sächsischen Freiberg ist verwaist, die ohnehin schmutziggraue Fassade verwaschen. Irgendjemand hat die Leuchtschrift mitgenommen. Aber die Schmutzränder geben noch preis, was da mal in geschwungenen Buchstaben gestanden hat: Lebensmittel.

Um Lebensmittel geht es in „Jeder schweigt von etwas anderem“, dem bereits auf der Berlinale gezeigten Dokumentarfilm von Marc Bauder und Dörthe Franke. Und es geht um Menschen. Menschen aus Freiberg, aus Zwickau, Menschen aus Berlin-Hohenschönhausen, dem Stasigefängnis.

An furnierten Schreibtischen saßen dort die, die über die richtigen Lebensmittel entschieden. Über die Portionen an freiem Geist, die eine Republik zu dulden in der Lage war. Wer vor diesem Schreibtisch saß, landete auch in einer Zelle. Noch heute könne er nicht an einer backsteinernen Fabrik vorbeifahren, „und von denen gibt es viele im Voigtland“, ohne zu denken, wie schnell man daraus auch ein Gefängnis machen könnte, erzählt Utz Rachowski: „Und die Wärter sind auch schon da.“

Nicht die von früher, das wäre zu einfach, aber Menschen, die wieder bei so etwas mitmachen würden. Neun Jahre hatte die Staatssicherheit Rachowski auf dem Kieker. Dann wurde er eingesperrt – aufgrund staatszersetzender Lyrik, man hatte Angst vor der Kunst.

„Jeder schweigt von etwas anderem“ ist ein brillanter Zuhörfilm. Mit mindestens einem Dutzend dieser Sätze, die jeden für sich allein tief in die Abgründe eines „Puppenhausfaschismus“ blicken lassen, wie Anne Gollin die DDR nennt. Friedensaktivistin ist sie gewesen, hat in der Gaststätte zum Löwen über die Sowjets und die Kinderheime geschimpft. Ein Stasispitzel saß mit am Tisch. Es folgten mehrere Jahre Knast, 1983 wurde Gollin von der BRD freigekauft.

„Wenn einer gegen die Gesetze verstößt, dann muss er die Konsequenzen ziehen, das ist doch heute genauso“, versucht ihr Vater das Geschehene einzuordnen. Und meint das gar nicht mal böse. Er spricht einfach von der Anpassungsfähigkeit der Menschen, die mitlaufen, gerade weil sie sich selbst nicht bewegen. Und sich dabei vielleicht selbst, wenigstens aber gegenseitig, als Familie, nicht verlieren.

Anne Gollin hat ihren Sohn verloren, er wurde ihr weggenommen. Unter anderem verbrachte er vier Monate völlig gesund auf der Quarantänestation eines Krankenhauses. „Du bist ja nicht meine richtige Mama, du bist meine Freundin“, hat Sebastian Gollin später immer wieder zu seiner fremden Mutter gesagt. Im Film wollte er nicht auftreten. Sein berechtigter Wunsch von etwas anderem, seiner Geschichte nämlich, zu schweigen. CLEM