„Die Kinder fühlen sich minderwertig“

LEGASTHENIE Das Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik (LOS) hilft seit 30 Jahren Kindern mit Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die Hürde für staatliche Gelder sei zu hoch, kritisiert ihr Leiter

■ 43, leitet die Legastheniehilfe in Hoheluft, ist diplomierter Sozialpädagoge und ehemaliger Sonderschullehrer

INTERVIEW: GORDON BARNARD

taz: Herr Czerwinski, Sie sind seit zehn Jahren Inhaber und Leiter einer lerntherapeutischen Praxis für Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) und ADS vom Verband LOS. Wo genau besteht der Unterschied zwischen LRS und Legasthenie?

Jan Czerwinski: Zunächst mal ist Legasthenie von der World Health Organisation als Krankheit definiert, die unter anderem genetisch bedingt sein kann. Hier treten die Schwierigkeiten der Kinder nur im Schriftbereich auf. LRS hingegen wird häufig auch erworben und kann vielfältige Ursachen haben. Da Legasthenie eine Krankheit ist, entsteht bei ihr seitens der Bürger ein Rechtsanspruch auf Hilfe, bei LRS hingegen nicht.

Wie diagnostizieren Sie hier die Unterschiede?

Im Diagnoseverfahren untersuchen wir Schriftbild und Motorik der Kinder anhand ihrer Schulhefte. Und wir analysieren, ob sie die Aufgaben richtig verstehen. Inzwischen nutzen wir hierzu auch ein Online-Verfahren namens ‚Dideon‘, außerdem ist eine Anamnese wichtig, bei der wir die Leidensgeschichte des Patienten erfassen. In der Therapie gibt es verschiedene Ansätze. Ich gehe in meiner Praxis vom pädagogischen Ansatz aus. Das bedeutet, wir helfen den Kindern in Kleingruppen, um so das Umfeld der Schule zu simulieren und ihnen klar zu machen, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind. Ein alternativer Ansatz ist psychologischer Natur und sieht oft eine Einzelförderung vor. Diese kann sinnvoll sein, wenn zum Beispiel Grundprobleme wie eine Trennung der Eltern vorhanden sind.

Es braucht also eine Menge pädagogisches Geschick?

Ja, am besten abgesichert durch eine solide Ausbildung. In meiner Praxis arbeiten sechs freiberufliche Pädagogen und zwei feste Mitarbeiter, die ebenfalls Fortbildungen im lerntherapeutischen Bereich haben. Derzeit betreuen wir 80 Kinder.

Kommen die Eltern dieser Kinder direkt zu Ihnen?

Ja, etwa 80 Prozent der Eltern wenden sich direkt an uns. Unser großes Netzwerk aus Schulen, Kinderpsychologen und Kinderärzten empfiehlt uns meist weiter. Vor allem, weil wir die Diagnose kurzfristig und in etwa zwei Wochen durchführen können. In der Schule dauert der Prozess oft ein halbes Jahr.

Lesen und Schreiben gehört in unserer Gesellschaft untrennbar zum gebildet sein dazu. Macht sich dadurch ein Druck bei den Kindern bemerkbar?

Der ist sehr deutlich spürbar. Viele Kinder fühlen sich minderwertig. Und jedes Mal, wenn sie im Unterricht etwas stockend vorlesen und die Mitschüler lachen, wird es schlimmer. Auch von den Eltern geht ein gewisser Druck aus, den wir aber in der Regel in persönlichen Gesprächen schnell abbauen.

Kann man gegen den Druck in der Schule nichts ausrichten?

Das ist äußerst schwierig. Ich war früher selbst Lehrer und weiß daher, wie festgefahren Abläufe in Schulen sind. Wir setzen auf die Eltern. Für sie bieten wir auch Seminare an, in denen wir sie auf Möglichkeiten hinweisen: Über Lehrer lässt sich zum Beispiel erwirken, dass den Schülern die Aufgabenstellung vorgelesen wird oder sie mehr Zeit zur Verfügung haben. Es ist sogar möglich, die Benotung auszusetzen. Die meisten Lehrer wissen von diesen Maßnahmen allerdings nichts.

Seit zehn Jahren sind Sie nun in der Legastheniehilfe tätig. Haben Sie in diesem Zeitraum Veränderungen bemerkt?

Legasthenie kommt vom lateinischen legere für „lesen“ und dem altgriechischen asthéneia für „Schwäche“, heißt wörtlich Leseschwäche und bezeichnet eine genetisch bedingte Störung des Erwerbs der Schriftsprache. Abzugrenzen ist es von der WHO nicht als Krankheit definierten Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), die nicht genetisch bedingt ist, sondern durch äußere Faktoren (Schule oder Elternhaus) ausgelöst wird.

Betroffen sind bundesweit etwa vier Prozent der Schüler. 60 Prozent der Betroffenen haben Schwierigkeiten sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben, 30 Prozent nur beim Schreiben, 10 Prozent ausschließlich beim Lesen.

Ursache können verschiedene Faktoren sein, genetische, neurologische oder auch Störungen der Wahrnehmungs- und Blickfunktion oder der phonologischen Bewusstheit. Oft gehen mit Legasthenie auch Konzentrationsschwierigkeiten einher.

Behandelt werden kann sie sehr effektiv in Gruppentherapie.

Vor einigen Jahren begannen die Schulen, eigene Programme anzubieten. Einige der Schulen behaupten, die Kinder bräuchten keine außerschulische Hilfe. In der Realität sieht es aber so aus, dass die schulische Förderung nur einmal die Woche für 45 Minuten erfolgt und oft ausfällt. Die Programme haben meist den Charakter einer Nachhilfe. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor für die Eltern war die angedachte Schulreform, durch sie hatten wir in den vergangenen Jahren weniger Anmeldungen. Und dann ist da natürlich noch die Wirtschaftskrise. Die Eltern von etwa 70 Prozent unser Patienten sind Selbstzahler.

Gibt es keine staatlichen Fördermaßnahmen?

Die gibt es, nur ist es insbesondere in Hamburg schwer, an diese zu gelangen. Problematisch ist, dass Legasthenie hier offiziell nicht als Krankheit anerkannt ist. Alle Fördermaßnahmen sind freiwillig und gehen von der Schulbehörde oder dem Jugendamt aus. Damit Fördergelder fließen, muss bei Diagnose-Tests nachgewiesen werden, dass 95 Prozent der gleichaltrigen Mitschüler schlechtere Ergebnisse erzielen. In anderen Bundesländern liegt diese Schwelle bei nur 80 Prozent. Zusätzlich braucht man ein Arztgutachten, das Legasthenie bescheinigt. Wir beim LOS gehen davon aus, dass bereits Förderbedarf gegeben ist, wenn 75 Prozent der Schüler bessere Leistungen bringen als Schüler mit Verdacht auf Legasthenie.

Ab wann ist es ratsam, über eine Therapie nachzudenken?

Wenn der Schüler in der zweiten Klasse ist, ist das der optimale Zeitpunkt. Dann sind die Schwierigkeiten noch nicht verfestigt. Die meisten unserer Kinder sind aber in der vierten Klasse, weil es hier damit losgeht, dass die Versetzung der Kinder gefährdet ist oder sie nicht aufs Gymnasium dürfen. Zu spät ist es für eine Therapie aber nie. Einer unserer Schüler ist zum Beispiel in der elften Klasse.