Goebbels agitierte vom Rang herunter

SABOTAGE Am 4. Dezember 1930 kam die Romanverfilmung „Im Westen nichts Neues“ ins Kino. Einen Tag später sprengten die Nazis die Aufführung. Das Premierenkino musste schließen, Lewis Milestones Film wurde verboten

Stinkbomben wurden gezündet. Mitten im Chaos flitzten weiße Mäuse über den Kinoboden

VON CARSTEN JANKE

„Der Novembernebel roch nach Schwierigkeiten, Ängsten, Pleitegeiern auf dem Dache, bleierner Mutlosigkeit der Unternehmer“, notierte Hanns Brodnitz im Rückblick auf das Jahr 1930. „Über den Theatern und Kinos lag eine Wolke von Lethargie.“ Brodnitz betrieb damals am Nollendorfplatz das Kino Mozartsaal. Die Deutschland-Premiere von „Im Westen nichts Neues“ hatte er für den 4. Dezember angesetzt. Die Remarque-Verfilmung aus Hollywood sollte erstmals in der deutschen Fassung gezeigt werden. Am Premierenabend kam die Prominenz der Weimarer Republik: Minister der Regierung waren im Saal, drei ehemalige Reichskanzler, Künstler wie Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger oder Georg Grosz. Der Abend war ein voller Erfolg.

In Berlin versuchte die NSDAP in diesen Tagen, durch ihre Erfolge bei den Reichstagswahlen angespornt, das öffentliche Leben mit Aufmärschen, Kundgebungen und Störungen zu drangsalieren. Die SA war auf bestem Wege, den Kampfbund der KPD als „Stimme der Straße“ abzulösen.

Am 5. Dezember verlief die Nachmittagsvorstellung ruhig. Während der Abendvorstellung gab es plötzlich Unruhe im Saal. Immer wieder kam es zu Zwischenrufen. Der Ton wurde lauter gedreht, es half nichts. Es gab Schlägereien. Vom Rang aus heizte ein kleiner Mann die im Saal platzierten Nazis weiter an. Das war Joseph Goebbels. Dann wurden Stinkbomben gezündet. Mitten im Chaos flitzten plötzlich weiße Mäuse über den Kinoboden. Die Vorstellung musste abgebrochen werden. Die herbeigerufenen Polizeihundertschaften hatten danach Mühe, das Kino und den Nollendorfplatz zu räumen, da noch mehrere tausend Nazis hinzugekommen waren, um gegen die „Filmjuden“ zu protestieren, die hier ihrer Meinung nach das Erbe der „Frontsoldaten“ beschmutzten.

„Es ging zwar vordergründig um das Ansehen der Wehrmacht, de facto war die Stoßrichtung aber schon antisemitisch“, sagt der Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen. Einer dieser „Filmjuden“ war Hanns Brodnitz, der andere war Carl Laemmle Jr., der „Im Westen nichts Neues“ produziert hatte. „Der Film ist instrumentalisiert worden für etwas, das die Nazis politisch durchsetzen wollten“, fährt Jacobsen fort. Goebbels, der damalige „Gauleiter für Groß-Berlin“, schrieb triumphierend in seinem Tagebuch: „Heute morgen Demonstrationsverbot. Der Film wird morgen fallen. Wenn ja, dann haben wir einen Sieg errungen, wie er grandioser gar nicht gedacht werden kann.“

Nach den Ausschreitungen richtete sich die Aufmerksamkeit der Republik eine Woche lang auf den Nollendorfplatz und den Mozartsaal. Brodnitz erinnert sich später: „Zu keiner Stunde des Tages kam der Platz zur Ruhe, immer blieb er erfüllt von lärmenden, rufenden, schreienden Menschen und Demonstrationszügen. Ein Zurückweichen vor den Mächten der Straße war […] nicht möglich.“ Es gab Bombendrohungen und Sabotageversuche an der Stromversorgung. Zuschauer mussten sich vor dem Film durchsuchen lassen.

Und die Regierung gab nach. Am 11. Dezember 1930 verbot die Oberprüfstelle den Film. Allerdings nicht wegen der eventuellen Gefahren für die innere Sicherheit, sondern wegen der „Gefährdung des deutschen Ansehens“ im Ausland. Eine bizarre Argumentation, da man ja einer ausländischen Produktion die Ausstrahlung auf deutschen Leinwänden verbot. „Da hat sich die Oberprüfstelle tatsächlich selbst entmachtet, indem sie einem politischen Druck nachgegeben hat“, stellt Jacobsen fest. „Einen anderen so heftigen Fall hat es in der Weimarer Republik in der Auseinandersetzung mit einem Film nicht gegeben.“ Der Mozartsaal musste schließen. Das Filmverbot wurde 1931 gelockert. 1933 wiederum wurde der Film von den Nazis verboten. Brodnitz wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Die Anfeindungen gegen „Im Westen nichts Neues“ muten aus heutiger Sicht heuchlerisch an. Die Leiden der Soldaten, ihr „Frontsarkasmus“, aber auch ihr williges Sich-Fügen ins Gemet- zel stellt der Film dar. Nur am Rande tauchen die schnauzbärtigen und „Kaiserrr“ blaffenden Hunnen auf, die in Hollywoodfilmen der zwanziger Jahre gern als die Deutschen gezeigt wurden.

■ „Im Westen nichts Neues“ läuft am Sonntag um 19 Uhr im Babylon-Mitte. Einen Vortrag über die Geschichte des Films gibt es um 17 Uhr