DIE NOTBREMSE
: Bauchschmerzen

Die Schultern hochgezogen, liest er die Mail noch einmal durch

Wenn einer in der S-Bahn die Notbremse zieht, rumpelt und quietscht es meist. Manchmal aber geschieht es ganz leise, und nur durch Zufall kann es ein unbeteiligter Fahrgast erfahren. So wie an diesem Morgen im Berufsverkehr in der S 3 in Köpenick.

Träumend in die vorbeiziehende Stadtlandschaft blickend, sitze ich an einem Fensterplatz. An der nächsten Station lässt sich ein großer, bärtiger Mann um die 40, eine dunkle Hornbrille tragend, neben mir nieder und packt seinen Rechner aus. Wenig später schreibt er unter seinem Klarnamen eine E-Mail, die ich – neugierig, aber diskret – mit schrägem Blick leicht mitlesen kann.

„Guten Tag“, beginnt er seinen Rundbrief an Kollegen. Leider müsse er ihnen mitteilen, dass er beim Projekt „XYZ“ nicht weiter mitarbeiten könne. Der Grund sei, dass seine Tochter seit mehreren Wochen nur noch wenig esse, über Bauchschmerzen klage und nicht zur Schule wolle. Ein Besuch bei der Kinderärztin am Vortag habe ergeben, dass es sich wohl um psychologische Probleme handle. Zwar sei das Kind heute wieder zur Schule gegangen, aber dennoch werde er nun „seine häusliche Präsenz verstärken“.

Die Schultern hochgezogen, liest der Mann seine E-Mail noch einmal durch – und schickt sie ab. Puh, atme ich als empathischer Papa auf: Glückwunsch zu dieser Notbremse in letzter Minute! Und: Hoffentlich steckt nichts Schlimmes hinter den Bauchschmerzen, Mobbing oder Missbrauch etwa.

Ohne sich eine Pause zu gönnen, widmet sich der Mann weiterer Korrespondenz: berufliche E-Mails, eine Sportverabredung und eine Ausflugsplanung. Erst kurz vor dem Aussteigen in der Innenstadt klappt er den Rechner zu. Als er zur Tür geht, sehe ich das Logo seines Arbeitgebers, auf der Jacke. Ich weiß nun viel zu viel über ihn – aber ich habe es schon vergessen. RICHARD ROTHER