Die erste Ikone Europas

CONCHITA WURST wurde vom europäischen Publikum zum Sieg getragen – in Ost wie in West. Russische Politiker sind entsetzt

VON JAN FEDDERSEN

BERLIN taz | Nun gehört der rechtspopulistische Politiker Wladimir Schirinowski nicht mehr zum erlauchten Kreis des Kreml – er reagierte mit schriller, offenbar verzweifelter Wut auf den Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest (ESC). „Da unten [er meint Österreich, d. Red] gibt es keine Frauen und Männer mehr, sondern ein Es.“ Und vergangenheitsselig anfügend: „Vor 50 Jahren hat die sowjetische Armee Österreich besetzt, es freizugeben war ein Fehler, wir hätten bleiben sollen.“

Schirinowski, der einstige Kommunist, sprach wohl doch für den Mainstream der politischen Elite seines Landes – tatsächlich gab es bislang keine freundlichen Worte über die Siegerin aus Wien. Anstandshalber immerhin gratulierte Philippe Kirkorow, als Musikproduzent Teil des kulturellen Hofstaats am Kreml nach dem Finalergebnis von Sonntagnacht; in den Tagen zuvor in Kopenhagen hatte er noch Conchita Wurst und ihren Auftrittsstil für „Rise Like A Phoenix“ verlästert und verhämt.

Möglicherweise hängt der Zorn vieler Kommentatoren in Russland damit zusammen, dass die neuen Transparenzregeln der European Broadcasting Union für den ESC Analysen des Resultats erlauben. Die Wertungen aus den 37 Ländern vom Samstag setzten sich, wie seit einigen Jahren, je hälftig aus den Urteilen einer fünfköpfigen Fachjury und des Televotings (Anrufe und SMS) zusammen. Aus der veröffentlichten Liste lässt sich ersehen, dass Conchita Wurst auch in der Summe der reinen Juryergebnisse gewonnen hätte – aber nur knapp mit 14 Punkten vor den Common Linnets aus den Niederlanden. Allein nach der Publikumswertung hätte Tom Neuwirth aus Bad Mitterndorf (aka Conchita Wurst) noch deutlicher gesiegt.

In Russland kam sie auf Platz – elf und wäre punktlos geblieben. Aber Conchita Wurst machte offenbar auch beim russischen Publikum, also bei jenen, die Tonträger kaufen, bella figura und landete auf dem dritten Rang. Die von russischen Politikern wie von Kulturverantwortlichen unterstellte Aversion gegen eine offen schwule Dragqueen existiert offenbar nicht in dieser schlichten Weise. In vielen osteuropäischen Ländern war die Popularität der Siegerin durchweg viel größer als bei den FachjurorInnen, etwa in Polen, Rumänien, Ungarn, Weißrussland und der Ukraine.

Viel hätte sich allerdings nicht geändert, wären nur die Jurys oder die Televotenden zum Zuge gekommen. Auffällig bleibt, dass auch das polnische Lied, eine körperlich-fraulich sehr freizügige Nummer über die Klischees des Slawentums, beim Publikum besser abschnitt als bei den Profileuten. Platz 5 (statt am Ende 14) hätte es bedeutet. Die Vermutung des Internetmathematikers Holger Dambeck mit seinen vorzüglichen Zahlenanalysen (http://hdambeck.de), dass Westeuropa besonders auf polnische Stereotype abfahre, leuchtet nicht ein: Platz 1 in der Ukraine, Irland, Norwegen und dem Vereinigten Königreich sowie Platz 2 in Island und den Niederlanden verweisen auf die hohen Einwanderungsraten von Polen in diese Länder (Island bleibt jedoch nach diesem Schema unerklärlich). Bei den Jurys fiel die HipHop-Frauennummer bis auf Platz 23 durch.

Migrationsvoten haben beim ESC Tradition: Früher bekamen lettische, litauische oder polnische Acts aus Irland überproportional viele Stimmen – es waren, das weiß auch die ESC-Leitungsgruppe, in der Regel Voten aus der Fremde für die Lieder der alten Heimat.

Es war auch ein Sieg eines Bartträgers. Das französische Lied „Moustache“, das vom Wunsch nach einem Bart handelt, wurde Allerletzter. Bei den Jurys wie beim Publikum.