WIE DER „AMERIKANER“ URBAN ÜBER SIE DACHTE, LASEN DIE WILHELMINISCHEN BERLINER GERN
: Für Berlin schwärmen, selbst mit Bierbauch

VON JÖRG SUNDERMEIER

Irgendwo in seinem Anzug scheint der Berliner eine Tasche zu haben, in der immer eine belegte ‚Stulle‘ sitzt, zum Schutz vor dem Hungertode. Dergleichen wird man in New York nie sehen. Ein im Straßenbahnwagen frühstückender Mensch würde ein Panoptikum-Angebot erhalten. Und überall, selbst auf einem Stadtbahnhof oder einem Vorortbahnhof, steht ein schäumendes Glas Bier bereit, um den Berliner vor dem grässlichen Tode des Verdurstens zu retten.“ So beschreibt Henry F. Urban, ein Deutschamerikaner, im Jahr 1911 die Berliner.

Er beobachtet auch, was das ständige Essen und Trinken aus den Bewohnern der Reichshauptstadt macht: „Die Folge ist, dass der schönste Berliner Ende der Dreißiger oder Anfang der Vierziger verfettet oder mindestens verbaucht.“ Einzig die Soldaten seien daher hübsch anzusehen.

Der Amerikaner Urban schrieb wie ein Muttersprachler und tatsächlich gehörte er zur deutschsprachigen Minderheit in den USA. Er teilte seine Eindrücke von Berlin allerdings deutschen Leserinnen und Lesern mit, die er im Berliner Lokal-Anzeiger mit der Kolumne „Die Entdeckung Berlins“ unterhielt. Und die Hauptstadtbewohner lasen gern, wie „der Amerikaner“ über sie dachte. Was nicht zuletzt daran lag, dass Urban sie besser aussehen ließ als die New Yorker, mit denen er sie immerfort verglich. Die Amerikaner erschienen bei Urban letztlich allesamt als prüde, etwas kulturlos, als egoistisch und raffgierig – „Ist es nicht schrecklich, dass die Amerikaner alles immer nur vom Dollar-Standpunkte aus betrachten …?“

Urban also spaziert für seine Berliner Leserinnen und Leser durch das wilhelminische Berlin und er lässt es sich gefallen. Er genießt es, dass die Damen – anders als in NY – offen mit den sie anstarrenden Männern flirten, er gönnt sich unverkatert einen Neujahrsbummel, beschreibt die Idylle des Balkons, in der man stets unter Beobachtung seiner neugierigen Nachbarinnen steht – „Die Amerikana essen schon wieda Sparjel!“ –, und begleitet Freunde aus Übersee auf einer für sie erstaunlichen Stadtrundfahrt.

Über den Autor der „Entdeckung Berlins“, die der Kulturwissenschaftler und Stadtforscher Michael Bienert wieder ausgegraben hat, ist nicht viel bekannt. Urban lebte von 1862 bis 1924, in den Jahren nach der Jahrhundertwende pendelte er, der zuvor schon in den USA viel für deutschsprachige Zeitungen geschrieben hatte, oft zwischen Berlin und New York.

Anfang 1914 verließ er die Stadt, und spätestens der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hinderte ihn an der Rückkehr. In New York dann litt Urban unter der zunehmend deutschfeindlichen Stimmung – er selbst war eher antiamerikanisch eingestellt. Doch der Mythos vom „Kulturdeutschen“, der ja spätestens in diesem Krieg entzaubert wurde, prägte Urban so sehr, dass er auch nach dem Weltkrieg versuchte, in den USA Stimmung für Deutschland zu machen.

Bienert hat für sein ausführliches Nachwort viele Akten und Dokumente einsehen müssen, dennoch konnte er viele Lücken in Urbans Leben nicht aufklären. Die kleinen Bücher, die Urban ausnahmslos in Deutschland verlegt hatte, ruhen in Archiven, nur die „Entdeckung Berlins“ liegt jetzt wieder neu vor. Sie zeigt uns eine wilhelminische Reichshauptstadt, die so viel friedlicher und possierlicher erscheint, als man angenommen hätte. Ein Amerikaner, der im deutschen Soldaten vor allem Schönheit erblickte, hat vermutlich nichts anderes erblicken können.

■ Henry F. Urban: „Die Entdeckung Berlins“. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2014, 184 Seiten, 18,99 Euro ■ Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher Verlags