SEVIM DAGDELEN ÜBER NEOLIBERALE MIGRATIONSPOLITIK
: Mensch statt Profit

Die rassistischen und sozialdarwinistischen Thesen Thilo Sarrazins sind auf breiten Protest und Empörung in politischen Parteien, Wissenschaft, Verbänden und in der Gesellschaft gestoßen. Unbeachtet blieb und bleibt, dass viele derer, die Sarrazin verdammen, eine ganz ähnliche Politik wie er verfolgen.

Einerseits wird sozial schwachen und bildungsfernen Menschen die Einreise erschwert oder unmöglich gemacht, der Ehegattennachzug ist erheblich eingeschränkt, und Flüchtlinge erhalten ein gekürztes Existenzminumum – wenn man sie nicht schon vorher mithilfe von teilweise militärischen Mitteln wie der Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer hat abweisen können.

Andererseits wird Einwanderung nach den Wünschen der Wirtschaft mittels menschenverachtender Punktesysteme, Konzepten wie „Blue Card“ und „zirkulärer Migration“ gefördert. Diese knüpft an die deutsche Gastarbeiterpolitik der 1950er Jahre an. Frei nach dem Motto „Das Kapital braucht mehr Ausländer, die ihm nützen“ wird damit der Nützlichkeitsrassismus befördert.

Diese Politik à la Sarrazin spiegelt den innersten Kern der neoliberalen Ideologie wider: Wer für diese Gesellschaft keinen ökonomischen Mehrwert hat, dem wird sein Wert generell abgesprochen. Auch verfolgt die herrschende Integrationspolitik in weiten Teilen dieselben Schuldzuweisungen an die Adresse der Migranten wie Sarrazin. Sie tut so, als seien die Migranten selbst schuld an ihrer katastrophalen sozialen Lage. Sie sollen besser Deutsch lernen, kriminelle Migranten sollen abgeschoben, integrationsunwillige sanktioniert, Parallelgesellschaften aufgelöst werden und so weiter. Die Integrationspolitik der letzten Jahre hat vieles von dem, was Sarrazin propagiert, bereits konkret umgesetzt.

Im Kern richten sich die Aussagen Sarrazins und der Politik jedoch nicht nur gegen Migranten. Sie richten sich gegen eine solidarische und gerechte Gesellschaft, indem sie die Gesellschaft spalten in wirtschaftlich „nützliche“ und „unnütze“ im Allgemeinen und in Deutsche und Migranten im Besonderen. Es sind aber nicht die sozial Ausgegrenzten und die Migranten, die eine gerechte Gesellschaftsordnung verhindern, sondern es ist die Logik einer Wirtschaft, deren höchstes Ziel der Profit ist, die den sozialen Frieden ebenso bedroht wie die Lebensgrundlagen von Migranten.

Unsere Verfassung, das Grundgesetz, zeichnet uns das unverwirklichte Bild einer Gesellschaft, in der der Mensch Maß aller Dinge ist und nicht die Verwertungslogik des Kapitals. In dieser soll es Gerechtigkeit für Deutsche und Nichtdeutsche geben. Um dieses Ziel je zu erreichen, muss man gemeinsam streiten und kämpfen. Deutsche und Migranten.

Sevim Dagdelen, 35, ist Bundestagsabgeordnete von Die Linke