„So blöd ist keiner in der Union“

Seit einem Jahr regiert Angela Merkel. Machtpolitisch ist sie unangefochten, auch wenn Schwarz-Rot oft konfus wirkt. Die Journalistin Evelyn Roll hat ein TV-Porträt über die Kanzlerin gedreht – und ist durchaus angetan von deren Stil

taz: Frau Roll, Angela Merkel ist ein Jahr Kanzlerin. Wie fällt ihr Urteil als politische Kommentatorin aus?

Evelyn Roll: Ich glaube, dass etwas wirklich Schreckliches passiert ist: Das Überraschende nach der Bundestagswahl 2005 war doch, dass viele wegen der großen Koalition eine neue, leise Hoffnung in die Machbarkeit von Politik gab. Bis ins Frühjahr hinein gab es ja eine richtige „Die packen das jetzt“-Stimmung. So, wie es dann aber mit der Gesundheitsreform gelaufen ist, ist noch einmal unfassbar viel Vertrauen zertrümmert worden. Wir haben jetzt noch mehr Menschen in der politischen Totalverweigerung als vorher.

Welchen Anteil hat Angela Merkel denn an dem Debakel mit der Gesundheitsreform? Es heißt doch: Wenn alle schreien, hat man was richtig gemacht.

Stimmt. So würde Merkel das bestimmt auch sehen. Da ist auch was dran, endlich haben sie den Lobbyisten empfindlich auf die Füße getreten, wenn auch für meinen Geschmack noch längst nicht genug. Aber was die Koalition nicht im Griff hatte, war die Kommunikation und das Organisieren von Konsens. Das ist alles in dieser riesigen Kakophonie untergegangen, mit der unsere Politiker sich selber entmachten, offenbar ohne es zu spüren. Die Spitzenpolitiker der Republik verhandeln bis zum Morgengrauen über die Spiegelstriche von Referentenentwürfen. Danach treten sie an die Medien und sagen „Heureka!“ – doch am Nachmittag ist schon wieder alles nicht mehr wahr, weil zum Beispiel Edmund Stoiber, der mitverhandelt hat, sagt: Ne, doch nicht. Das war verheerend.

Ist das neu?

Ja, früher wären solche Diskussionen trotz der Neugier von Journalisten hinter geschlossenen Türen geführt worden, bis am Ende so etwas wie die Nachricht vom Vollzug möglich war. Das funktioniert aber in Berlin nicht mehr. Ich glaube, dass Angela Merkel weiß, dass es außer ihr und Franz Müntefering und – als er noch mitspielte – Gerhard Schröder in diesem Land überhaupt keine Politiker mehr gibt, die das können: die Klappe halten für das höhere und größere Ziel.

Das gilt für die CDU-Ministerpräsidenten – aber auch für das Kabinett?

Im Kabinett gelingt das mit der Vertraulichkeit tatsächlich noch am besten. Die Minister beider Parteien erfüllen den Geist der großen Koalition vergleichsweise gut, wenn man von den Tricksereien der Gesundheitsministerin absieht – die man andererseits, sportlich gesehen, aber auch bewundern kann. Doch schon in den Fraktionen sieht es wieder anders aus. Das wäre eine Aufgabe für die Zukunft: dass die Regierung die Fraktionen stärker einbindet, so dass die bei der Stange bleiben.

Wie ist Merkels Position in der Partei nach dem Jahr an der Regierung?

Natürlich ist man gefestigt, wenn man Kanzler ist. Das wird auch der Parteitag zeigen: Eine Bundeskanzlerin vor so einem wichtigen außenpolitischen Jahr – mit der EU-Ratspräsidentschaft, dem G-8-Gipfel in Berlin und dem 50. Jubiläum der Römischen Verträge, das in Berlin groß gefeiert wird – sitzt fest im Sattel. So blöd ist in der Union niemand. Auch wenn es vor dem CDU-Parteitag jetzt überall Putschgerüchte gibt. Angela Merkel wird wissen: Wenn Putschgerüchte gehandelt werden, ist die Gefahr längst gebannt. Wer wirklich putschen wollte, würde vorher nicht darüber reden.

Das heißt, Merkel ist das nächste Jahr unantastbar?

Nein, nicht unantastbar. Die Programmdebatte muss zu einem Ergebnis geführt werden. Es käme mir unheimlich vor, wenn die Partei weiter und auf ewig nicht diskutieren würde, was das Ergebnis der Bundestagswahl für sie bedeutet, wo die Schnittmenge liegt zwischen Freiheit und Solidarität und ob die Reise weiter Richtung Leipzig geht.

Wie wäre das Jahr für Merkel gelaufen, wenn Edmund Stoiber tatsächlich als Superminister nach Berlin gekommen wäre?

Wenn Stoiber Minister geworden wäre, wäre es darauf angekommen, wie sich seine Nachfolge in Bayern regelt und welchen Einfluss er behalten hätte. In unserem Film sagt Merkel: Der Stoiber muss das machen, wo er sich am wohlsten fühlt – gedankliche Klammer auf: dann kann er mir am wenigsten schaden. In diese Wunde piekst ja auch Gerhard Schröder mit seinem Buch sehr geschickt rein. Da beschreibt er, wie Merkel in der Anfangsphase der Koalitionsverhandlungen alles offenhalten und jede Menge Zugeständnisse machen musste, damit Stoiber sein Superministerium bekommt. So hat sich die SPD die tollen Posten ergattert. Dann trat Müntefering vom SPD-Parteivorsitz zurück, und Stoiber verkündete seinen Rückzug. Das muss ein harter Tag für Angela Merkel gewesen sein. Sie konnte ja nicht noch mal das Verhandlungspaket aufschnüren und sagen: Gilt alles nicht mehr, wir verteilen die Posten neu.

In Ihrem Film zeigen Sie eine humorvolle Angela Merkel, die über sich selbst lacht, wenn sie sich die Aufnahmen vom berühmten ungelenken Handkuss mit Chirac anschaut. Sollte Merkel darauf achten, mehr solche Aspekte ihrer Persönlichkeit in die Medien zu bringen?

Ihren Vorschlag würde Angela Merkel ablehnen, glaube ich, weil sie generell ablehnt, irgendetwas nur für die Medien zu inszenieren. Wenn die Abteilungsleiter im Kanzleramt ihre Kanzlerin loben wollen, dann sagen sie: Das Tolle an der Kanzlerin ist, dass sie nie in Schlagzeilen denkt, sondern immer in Sachthemen. Und das sagen sie auch noch nach diesem ersten Jahr, nachdem ich an ihrer Stelle über fast nichts anderes mehr als über Öffentlichkeitsarbeit nachdenken würde.

Mit Friede Springer und Sabine Christiansen hat Angela Merkel doch Freundinnen, die laut FAZ -Herausgeber Frank Schirrmacher die deutsche Bewusstseinsindustrie im Griff haben. Sind Merkels schlechte Umfrageergebnisse ein Beweis, dass Merkel die Medienarbeit sträflich vernachlässigt – oder dass die Schirrmacher-These noch nie gestimmt hat?

Weder noch. Ich glaube vielmehr, dass dieses Männer-Frauen-Ding eine viel geringere Rolle spielt, als alle zu Merkels Amtsantritt geglaubt haben. So gut wie alles, was im letzten Jahr passiert ist, wäre auch einem Mann so passiert. Schön finde ich, wie schnell es normal geworden ist, dass eine Frau regiert.

Also nur Zufall, dass im Jahr der ersten Bundeskanzlerin der feministische Backlash à la Eva Herman eingesetzt hat?

Diese dumme Hausfrauen-Debatte hat etwas mit der Arbeitsmarktsituation zu tun. Weil Arbeitsplätze fehlen, hat dieses Frauenmodell offenbar die Chance, vorübergehend den Pseudodiskurs zu entern, eben weil wir kaum Arbeitslose hätten, wenn sich alle Frauen gegen Lohnarbeit entscheiden würden.

Lassen Sie uns den Ausblick versuchen. Was werden 2007 die wichtigsten Themen für Merkel?

In der Innenpolitik ist es das Zuschnüren dessen, was schon angegangen worden ist – Unternehmensteuerreform, Gesundheitsreform, Revision von Hartz IV, Pflegeversicherung. Außenpolitisch wird neben dem G-8-und dem EU-Ratsvorsitz der Libanon-Einsatz ein Thema bleiben. Und interessant wird, wie CDU, CSU und SPD herausfinden, wie man die Koalition zusammenhält und sich zugleich für die Landtagswahlen und für 2009 gegeneinander positioniert.

INTERVIEW: HANNAH PILARCZYK