Grauen unter Tage

KATASTROPHE Nach Brand in westanatolischem Bergwerk wurden offiziell bisher 238 Kumpel tot geborgen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Ich warte hier seit Dienstagnachmittag. Mein Sohn ist in der Grube, ich habe immer noch keine Nachricht von ihm“, sagt eine Mutter, die in Soma direkt vor dem Ausgang der Kohlenmine, in der sich das Unglück ereignete, von einem TV-Sender interviewt wird. Mühsam hält ein Verwandter die Frau auf den Beinen. Immer wenn eine Leiche aus dem Schacht getragen wird, schauen sie und andere Frauen dem Toten ins Gesicht. Ein grausames Ritual, das so bald nicht zu Ende sein wird.

Am Dienstagnachmittag brach in der Kohlengrube in Soma, einer Kleinstadt in der westanatolischen Provinz Manisa, Feuer aus. Offiziell heißt es, in einem Trafo in 400 Meter Tiefe hätte es einen Kurzschluss gegeben, der zu einem Kabelbrand geführt und dann den mittleren Schacht in Brand gesetzt habe.

Gerettete Bergleute dagegen berichten von einer Gasexplosion als Auslöser. Sicher ist: Die gesamte Elektrik kollabierte – auch die Aufzüge funktionierten nicht mehr, mit denen die Bergleute das Bergwerk hätten verlassen können. Außerdem sollen die Ventilatoren für die Belüftung ausgefallen sein, so dass viele erstickten. Und die Druckluft, die von oben in die Schächte gepresst wurde, um die ausgefallene Belüftung zu ersetzen, heizte das Feuer weiter an, so dass am Mittwoch offenbar ganze Flöze in Flammen standen.

Bis Mittwochnachmittag konnte der Brand nicht gelöscht werden. Knapp 800 Kumpel – genaue Zahlen hatte niemand – sollen im Bergwerk gewesen sein, als das Feuer ausbrach. In der ersten Stunde nach dem Brand konnten sich rund 300 retten, weitere 80 wurden teilweise schwer verletzt von Rettungskräften geborgen. Bis Mittwochnachmittag wurden offiziell 238 Kumpel tot geborgen.

Wie viele der eingeschlossenen Bergleute zu dem Zeitpunkt noch am Leben waren, wusste in Soma niemand zu sagen. Verantwortliche sprachen von zwei Luftblasen, die sich gebildet hätten und in denen möglicherweise noch Überlebende zu finden wären. Allerdings schwand die Hoffnung für die Eingeschlossenen von Stunde zu Stunde. Während das Krankenhaus und das Kühlhaus der Stadt voller Leichen war, wurden auf einem nahe gelegenen Grasfeld bereits die Gräber ausgehoben.

Am Ende könnten rund 450 Menschen unter Tage ihr Leben gelassen haben. Am Mittwochnachmittag kam dann auch Ministerpräsident Tayyip Erdogan mit seinem halben Kabinett in Soma an. Energieminister Taner Yildiz, der bereits seit Dienstag vor Ort war, unterrichtete ihn über die Situation. Abgeschirmt von Polizei und Gendarmerie, die bereits Stunden vor dem Premier eingetroffen waren, besichtigte Erdogan den Eingang des Stollens und begab sich dann ins Rathaus von Soma.

Ebenfalls vor Ort war der Grubenbesitzer Alp Gürkan. Der ist offenbar mit Erdogans Partei AKP gut vernetzt: Seine Frau sitzt für die AKP im Stadtparlament, Gürkan hat die Grube 2005 vom Staat übernommen. Der Parlamentsabgeordnete der oppositionellen CHP aus Manisa berichtete gestern, Alp Gürkan hätte während der Kommunalwahlen im März seine Arbeiter genötigt, zu der Kundgebung Erdogans in Manisa zu gehen. Ihnen seien ihre Essenskarten weggenommen worden – und nur diejenigen, die bei der Erdogan-Kundgebung anwesend waren, hätten sie sich danach wieder abholen können.

Die Wut auf die Regierung, die skrupellose Unternehmer wie Gürkan Arbeiter unter „verbrecherischen“ Bedingungen – wie verschiedene Gewerkschaften gestern sagten – auspressen lässt, um selbst billig an Kohle zu kommen, ist in der ganzen Türkei enorm. Am Mittwochnachmittag bereits wurde an verschiedenen Universitäten des Landes demonstriert. Für den Abend hatten Gewerkschaften und oppositionelle Parteien zu Demonstrationen in Istanbul und Ankara aufgerufen.