Medikamente aus Gips und Ziegelstaub

Der US-Pharmakonzern Pfizer beklagt Verlustein Millionenhöhe durch Produkt-Piraterie

WASHINGTON taz ■ Dass das Medikament Viagra eine Revolution auslösen würde, war 1998 das erklärte Ziel des US-Pharmagiganten Pfizer. Dass diese Revolution nicht nur müde Männergemächte, sondern auch reihenweise Produktpiraten strammstehen lassen würde, diese Erkenntnis sorgte im Pfizer-Hauptsitz in New York nur wenige Monate nach der Marktfreigabe für helles Entsetzen. Das Mittel gegen die erektile Dysfunktion, heute legal fast weltweit erhältlich, wird gegenwärtig in mindestens 65 Ländern als Raubkopie verkauft. Damit ist Viagra das in der Geschichte der Produktpiraterie bislang meistkopierte Markenprodukt. Dicht gefolgt von den umsatzstärksten Pfizer-Produkten Lipitor (in Deutschland Sortis), einem Lipidsenker, sowie dem Blutdrucksenker Norvasc.

Laut eigenen schwammigen Schätzungen verliert der US-Konzern jährlich mehrere hundert Millionen US-Dollar durch Fälschungen seiner Produkte. „Im Internet ist die Chance, eine Viagra-Kopie zu erstehen, fifty-fifty“, sagt der Vizepräsident für globale Sicherheit bei Pfizer, John Theriault. Er verdankt diesen Zahlen seinen neuen Job. Theriault hatte 25 Jahre FBI-Karriere hinter sich, als ihn Pfizer 1999 anheuerte, um den weltgrößten Pharmakonzern (Jahresumsatz 2005: 51 Milliarden Dollar) vor Produktpiraterie zu schützen.

Für Theriault arbeitet seitdem ein stetig wachsendes Team von Ermittlern, Ex-Zollfahndern, Undercoveragenten und Chemikern. Doch seine 20 Angestellten, so scheint es, kämpfen gegen Windmühlen. „Wir beobachten geradezu eine Explosion auf dem Markt der Fälschungen“, sagt Theriault und wirft einige Powerpoint-Grafiken an die Wand. Zahlenangaben seien allerdings so unseriös wie Zahlen zum Drogenhandel. Er bezweifelt, dass die Weltgesundheitsbehörde (WHO), die den Anteil gefälschter Medikamente weltweit auf 10 Prozent schätzt, richtigliegt.

Das Eigenartige an der Produktpiraterie sei, so Theriault, dass nicht der Preis eines Originals der Auslöser für die Nachahmung sei, sondern die Nachfrage. So werde zum Beispiel das in ganz Lateinamerika weit verbreitete Pfizer-Schmerzmittel Ponstan, im Handel für Centbeträge erhältlich, umfangreich gefälscht. Oft mit schrecklichen Folgen. Denn weltweit werden immer wieder Fälle bekannt, in denen Menschen nach Einnahme gefälschter Medikamente sterben. Weil zum Beispiel statt des erwünschten Wirkstoffes nur Ziegelstaub, Gips und Farbe in der vermeintlichen Medizin enthalten waren.

Längst seien weltweit Medikamenten-Kopien im seriösen Handel zu finden – oft ohne Wissen der Einzelhändler oder Konsumenten. Obgleich das Gros der Fälschungen, die von China bis Kolumbien produziert werden, über das Internet kommt, haben seine Ermittler auch im deutschen Handel Viagra-Kopien gefunden. Während nach Theriaults Ermittlungen das „Einfallstor“ in den USA die Grossistenstruktur ist, seien es in der EU das Parallelsystem verschiedener Länder, verschiedener Verpackungen und das Recht, innerhalb der EU umzupacken. „Allgemein lässt sich sagen, je kürzer der Vertriebsweg vom Hersteller zum Konsumenten ist, desto weniger Chancen haben Fälscher und Betrüger, Raubkopien in das herkömmliche Vertriebssystem einzuspeisen.“

Wie genau Raubkopien aussehen, das ist eines von Theriaults Lieblingsthemen. Schnell projiziert er Fotos von echten und kopierten Tabletten und Packungen an die Wand. Ergebnis: Die Fälschung ist vom Original optisch nicht zu unterscheiden. „Die Fälscher sind immer besser geworden – in der Verpackung oft besser als wir“, sagt er und hält das „Meisterstück“ hoch, eine russische Viagra-Kopie. Auf deren Packung leuchtet ein Hologramm mit Serien-Nummer. Die Seriennummer ist echt, Verpackung und Faltung absolut identisch mit Pfizers. Nur: Pfizer verwendet bei Viagra gar kein Hologramm.ADRIENNE WOLTERSDORF