Erst kommt das Fressen, dann die Moral

LUXUSPROBLEM Berlin ist ein kulinarisches Paradies: nichts, was es nicht gibt. Das macht ethisch-ökologisches Essen nicht einfacher. Vor allem, weil es keinen verbindlichen Standard gibt, was korrekte Ernährung ist

Manchmal macht uns schon der Insulinspiegel einen Strich durch die Ethik-Rechnung

VON KRISTINA SIMONS

Kulinarisch lässt Berlin keine Wünsche offen: Die „Feinschmecker-Etage“ des KaDeWe zählt zu den größten Lebensmittelabteilungen der Welt und die gastronomische Vielfalt der Stadt ist beeindruckend, von Ayurveda bis Steinzeitküche. Auch Veganer finden nirgendwo sonst in Europa so viele komplett tierfreie Restaurants, Imbisse und Cafés. Die Fachbesuchermesse Next Organic Berlin, die diesen Sonntag im ehemaligen Flughafen Tempelhof stattfindet, hat veganem Essen und dem neuen Trend RAW (oder schlicht: Rohkost) sogar einen Schwerpunkt gewidmet. Dass gerade unser großer Fleischhunger mitverantwortlich ist für die Abholzung des Regenwaldes, für Treibhausgasausstoß und Wasserverbrauch, Welthunger und Artensterben, mag dem ein oder anderen zwar zumindest ansatzweise bewusst sein. Doch selbst die hehre Absicht, sich ethisch und ökologisch korrekt zu ernähren, schützt nicht automatisch davor, doch mal genussvoll in Döner oder Bratwurst vom Imbiss an der Ecke zu beißen.

Warum ist es manchmal so schwer, ethisch-ökologischen Anspruch und tatsächliches Essverhalten unter einen Hut zu bringen? Gunther Hirschfelder, Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg und Vorstand des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens, erklärt das so: „Über Ernährung reflektieren wir kognitiv, beim Essen handeln wir jedoch emotional, situationsbedingt und spontan.“ Manchmal würden uns schon allein Stoffwechsel oder Insulinspiegel einen Strich durch die Ethik-Rechnung machen und eine unbändige Lust auf Bratwurst, Burger oder Brezel in uns wecken. Hinzu komme, dass es auf die Schnelle, etwa in der Fußgängerzone, in der Regel vor allem Fleisch gebe. Weitere Schwierigkeit sei, so Hirschfelder, dass es überhaupt keinen verbindlichen Standard dafür gebe, was ethisch korrekte Ernährung überhaupt bedeute – zumal das historisch und kulturell ganz unterschiedlich eingeschätzt werde. Essen solle schmecken, satt, aber nicht dick machen und auch noch die Welt retten. „Das kann es alles gar nicht leisten“, sagt Hirschfelder. „Die komplexen und intransparenten Zusammenhänge zwischen Lebensmittelproduktion und Konsum wirklich in Gänze zu überblicken, ist außerdem schwer. Das verunsichert Verbraucher.“ Manchmal zeigt sich das schon an einfachen Fragen wie: Kaufe ich besser den fair gehandelten Honig aus Südamerika oder den nicht zertifizierten vom heimischen Imker?

Um die Auswirkungen unserer Ernährungsgewohnheiten auf Umwelt und Klima zu ermitteln, hat der WWF Deutschland den Flächen- und Klimafußabdruck unserer Lebensmittel berechnet. Gemeint sind die Treibhausgasemissionen sowie der Flächenverbrauch zum Beispiel für den Anbau von Tierfutter. „Tierische Produkte verursachen nicht nur 70 Prozent der ernährungsbedingten Treibhausgasemissionen“, weiß WWF-Referentin Tanja Dräger de Teran. „Sie hinterlassen im Vergleich zu den pflanzlichen Lebensmitteln auch einen wesentlich größeren Fußabdruck, unter anderem, da Tiere das Futter nicht eins zu eins in Fleisch umwandeln, sondern als Energie verbrauchen.“ Die Deutschen essen pro Person und Jahr im Schnitt knapp 90 Kilo Fleisch. Die Fläche, die der jährliche Fleischkonsum aller Deutschen benötige, entspreche acht Millionen Fußballfeldern, so Dräger de Teran. „Allein für Sojaschrot als Tierfutter bedarf es einer Fläche so groß wie Sachsen.“ Problematisch ist das auch deshalb, da Soja mittlerweile vor allem aus Südamerika importiert wird und sein Anbau dort wertvolle Lebens- und Naturräume bedroht.

Über Ernährung reflektieren wir kognitiv, beim Essen handeln wir jedoch emotional

Doch will uns der WWF nicht gleich zu Vegetariern oder Veganern machen. „Wer nicht auf Fleisch verzichten will, sollte einfach weniger und dafür besseres Fleisch essen.“ Die Mutterkuhhaltung mit ganzjähriger Weidehaltung sei zum Beispiel aus Sicht des Umwelt- und Naturschutzes und auch aus Sicht des Tierwohls die beste Art, Rinder zu halten. „Es bleibt Grünland erhalten, das nicht nur für den Artenschutz, sondern auch für den Klimaschutz von großer Bedeutung ist, und es wird auch kein zusätzliches Kraftfutter an die Rinder verfüttert, das Soja aus Südamerika enthalten könnte. Für diese Art der Tierhaltung werden keine Regenwälder gerodet.“

Würden die Deutschen einmal in der Woche auf Fleisch verzichten, würde das pro Jahr 9 Millionen Tonnen weniger Treibhausgase verursachen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt übrigens schon aus gesundheitlichen Gründen maximal 30 Kilo Fleisch und Wurst pro Person und Jahr. „Jeder Schritt in Richtung einer gesünderen Ernährung und damit auch zu einem geringeren Fleischkonsum ist ein absolut effektiver Beitrag zum Klima- und Umweltschutz“, resümiert Dräger de Teran.

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