Behördliche Gesundheitswarnung!

Der musikalische Nachlass der Beatles ist eine Goldgrube, deren kommerzielle Ausbeutung nun in eine letzte Runde geht. Das krude Musical „Love“ in Las Vegas und das „neue“ Album schaden zwar der Reputation von Paul McCartney & Co, nicht aber den legendären Melodien – die bleiben unkaputtbar

von NOEL RADEMACHER

Eine Wiedervereinigung der Beatles in Gestalt eines Musicals, ausgerechnet in Las Vegas! Während der Premierenfeier küsst Paul McCartney Yoko Ono! Auf die Wange! Und ein „neues“ Album der Beatles erscheint! Mit Remixen, bei denen „A Hard Day’s Night“ mit „Get Back“ gekreuzt wurden …

Was sich wie Nachrichten aus einer fiesen Science-Fiction-Satire anhört, ist – leider – nur allzu war. Aber darf man sich, nach der peinlichen Reunion-Single „Free As A Bird“ vor zehn Jahren, überhaupt noch wundern über seltsame Ideen von McCartney & Co? Damals hatte Sir George Martin, Produzent aller guten Beatles-Alben und scheinbar letzter Gralshüter ihres musikalischen Erbes, noch gesagt: „Jede weitere ‚neue‘ Beatles-Platte sollte man nur noch zusammen mit einer behördlichen Gesundheitswarnung herausgeben.“

Recht hatte der Mann. Und doch hat er nun selbst seinen guten Namen hergegeben für den neuesten Weihnachtsgeschenkartikel aus dem Hause Apple Corps Ltd., das den feiertagskompatiblen Titel „Love“ trägt. Wie konnte es dazu kommen?

George Harrison ist schuld. Vor sechs Jahren lernte der inzwischen verstorbene Beatles-Gitarrist, der neben seiner Vorliebe für fernöstliche Religionen auch ein Faible für Formel-1-Rennen hatte, beim Grand Prix in Montreal den kanadischen Milliardär und Zirkusunternehmer Guy Laliberté kennen. Dessen „Cirque du Soleil“ ist ein artistisches Riesenspektakel in Las Vegas, für das täglich Eintrittskarten im Wert von einer Million Dollar verkauft werden. Laliberté überzeugte Harrison von seiner Idee, eine Show des „Cirque du Soleil“ mit Beatles-Musik zu produzieren. Paul McCartney, Ringo Starr und Yoko Ono waren einverstanden. Und so wurde George Martin damit beauftragt, einen Soundtrack für das geplante Musical zu mischen.

Die Sache hatte nur einen Haken: Sir George Martin, unlängst von der Queen zum Ritter geschlagen, ist bereits 80 Jahre alt, längst in Rente und vor allem: stark schwerhörig. Von der Aufgabe, eine Klangcollage im 5.1- Surround-Sound zu mixen, die ein von Superlativen verwöhntes Musicalpublikum eineinhalb Stunden in ihren Bann zieht, fühlte er sich schlichtweg überfordert. Also holte er seinen 37-jährigen Sohn Giles Martin mit ins Boot, um mit ihm gemeinsam das Projekt zu stemmen.

Giles ist ebenfalls Produzent und hat sich mit Megaevents wie der „Party at the Palace“ zum goldenen Amtsjubiläum von Queen Elizabeth II. seine Sporen verdient. Mit der Musik der Beatles hatte er allerdings nie viel am Hut, wie er bei einem Pre-Listening von „Love“ in New York, bei dem sich Vater und Sohn den Fragen der Journalisten stellten, bekannte: „In meiner Jugend waren die Beatles nicht gerade in aller Munde.“

Mit der Autorität seines Vaters ausgestattet, lud sich Giles Martin die originalen Mastertapes von über hundert Beatles-Songs auf den Rechner und begann, diese mit den Mitteln der digitalen Technik zu manipulieren. Er separierte die einzelnen Spuren, veränderte Tempi und Tonhöhen und setzte die verschiedenen Teile nach dem Baukastenprinzip neu zusammen.

Sein Vater, der ihm dabei über die Schulter schaute, bekam zwischendurch das Muffensausen: „Ich hab zu Giles gesagt: Dafür werden sie uns kreuzigen.“ Aber nachdem McCartney, Starr und die Witwen Yoko Ono und Olivia Harrison sich nach einer privaten Vorstellung zufrieden mit dem Ergebnis zeigten, ließ er seine Bedenken fallen.

Was ist dabei herausgekommen? Ein Kessel Buntes. Altbekanntes, neu vermischt. Ein 80-minütiges „Stars On 45“-Medley. Oder, wie George Martin es ausdrückt: „Es ist kein Album der Greatest Hits, sondern der Greatest Sounds.“ „Yesterday“ wird an „Blackbird“ montiert, „Drive My Car“ mit „What You’re Doing“ gekreuzt. Harrisons indischer Raga vom „Sgt. Pepper“-Album, „Within You Without You“, wird mit dem psychedelischen Drum-Loop von „Tomorrow Never Knows“ unterlegt. In fast jedem Song des neuen Albums kann man rund ein halbes Dutzend Klangzitate aus anderen Stücken finden. So wird das Anhören von „Love“ zu einem heiteren Ratespielchen für Beatles-Fans.

Es stellt sich nur die Frage nach dem Sinn eines solchen Unterfangens. Als Untermalung für einen bunten Musicalabend mit Tanz und Trapez mag diese Mischung aus Nostalgie und Überraschungseffekt ja durchaus seinen Zweck erfüllen. Aber als autorisiertes „neues“ Beatles-Album, das sich den Vergleich mit den Klassikern von „Revolver“ bis „Abbey Road“ gefallen lassen muss? Gegen die zu erwartende Kritik der Traditionalisten nimmt sich George Martin schon mal im Voraus selbst in Schutz: „Wenn die Leute das nicht mögen, sollen sie die alten Platten hören“, sagte er bei der Pressevorführung. „Das ist nicht der Heilige Gral. Wenn irgendjemand das Recht hat, so etwas zu machen, dann ich.“ Der neuartige, kreative „Mash-up“ von „Love“ sei ganz im Geiste der Beatles selbst, die zeit ihres Bestehens immer den Hörgewohnheiten ihrer Fans vorausgewesen seien. „Love“ als cooles Avantgarde-Album, an dem nur Ewiggestrige etwas auszusetzen haben?

Dieser Legitimationsversuch überzeugt kaum, denn besonders innovativ ist die Idee eines Remix-Albums im Jahre 2006 wahrlich nicht. Als der amerikanische DJ Danger Mouse vor zwei Jahren das „White Album“ der Beatles mit dem „Black Album“ des Rappers Jay-Z kreuzte, verhinderte die Beatles-Erben-Gemeinschaft noch gerichtlich die Auslieferung des Albums. Und veröffentlichte zur selben Zeit das puristische „Let It Be … Naked“, auf dem jede fremde Einmischung ins allerletzte Beatles-Album penibel getilgt wurde.

Damals wie heute geht es vor allem um eines: das Weihnachtsgeschäft durch ein neues Beatles-Produkt zu beleben.

Es wird nicht das letzte sein – auch wenn George Martin versprochen hat, sich nun endgültig zur Ruhe zu setzen („Das ist das letzte Album, das ich gemacht habe“). Der Stab ist ja nun an seinen Sohn weitergereicht.