Fünfzig Sterne für Bermuda

Wohlhabende US-Amerikaner kommen viele, Europäer wenige. Golfspielen auf acht Plätzen, Hochseeangeln ohne Lizenz und ein weltberühmtes Tauchrevier mit jeder Menge Wracks dicht unter der Meeresoberfläche. Doch die Legenden ums Bermudadreieck haben ihren Schrecken längst verloren

In den Supermärktengibt es nicht einmal eine Biersorte aus demenglischen Heimatland

von CHRISTIAN LEETZ

Lenny kommt fünfzehn Minuten zu spät. Wie immer. Krumm kann man das dem Mann mit den Bermudashorts und den kniehohen Wollsocken nicht nehmen. Entschuldigt Lenny das doch stets mit seinem schönsten Lächeln und dem „Bermudian way of life“. Die grauen Haare hat er kurz geschoren. Seine braunen Augen schauen hellwach durch eine runde Brille mit Goldrand. „Okay“, sagt Lenny: „Hamilton City.“ Dann legt er den Gang ein und fährt los.

Lenny Holder ist Taxifahrer. Seit achtzehn Jahren kutschiert der Fünfundsechzigjährige Touristen über die 21 Quadratkilometer große Atlantikinsel, die auf der Höhe des US-Bundesstaates North Carolina, zwei Flugstunden östlich, im Ozean liegt. Nur 155 Kilometer misst das Straßennetz des britischen Überseegebiets. Und meist fährt Lenny schneller als die generell erlaubten 35 Kilometer pro Stunde. Das Schönste an seinem Job sei, „dass Bermuda hinter jeder Kurve ein bisschen anders aussieht“, sagt Lenny. An manchen Tagen fühle er sich, als habe er einen Freifahrtschein durchs Paradies gewonnen – auf Lebenszeit.

Was er genau damit meint, wird klar, fährt man selbst die South Road entlang: Da blitzt der Atlantik so blau, dass die Karibik vor Neid erblasst. Imposante Klippen markieren das Ende der Insel vor einem schier unendlichen Horizont. Am Außenriff, das nur 400 Meter vom Strand entfernt liegt, kräuseln sich pausenlos Schaumkronen über das Wasser. Ein warmer Wind streichelt die Haut. Und alle paar Meter tauchen Strände auf, die regelmäßig von Lesern der großen US-Reisemagazine in die Top Ten der Welt gewählt werden.

Neunzig Prozent der Touristen, die nach Bermuda reisen, kommen aus den Vereinigten Staaten. Meist sind sie wohlhabend und weiß. Bevorzugt spielen sie Golf oder gehören zur Gilde der Kreuzfahrer, die täglich zu Tausenden an drei Terminals ausgespuckt werden. Die Masse der Amerikaner prägt das Bild der Insel so stark, dass nur der Kopf der Queen auf dem Bermudadollar, die historische Hafenanlage am Royal Naval Dockyard und ab und an eine britische Flagge daran erinnern, dass man sich in einer britischen Kolonie befindet. Die Inselbewohner sprechen überwiegend amerikanisches Englisch. Die Supermärkte sind mit US-Produkten so vollgestopft, dass in den meisten Filialen nicht einmal mehr eine Biersorte aus dem englischen Heimatland zu finden ist. Die Hotels tischen zum Frühstück auf, was die Supermacht so gerne hat: Pancakes mit Sirup, Speck und jede Menge Würstchen mit Ketchup und einen Kaffee, so dünn, dass man die Zeitung dadurch lesen könnte.

Nach dem Frühstück – oder direkt vom Kreuzfahrtschiff – geht es für die meisten Touristen wie überall sonst auch an den Strand. Und je höher ein Küstenstreifen von einem US-Reisemagazin bewertet wurde, desto voller ist er. Derzeit besonders angesagt: Horseshoe Bay an der Südseite der Insel – angeblich der drittschönste Strand unseres Planeten. Gleich am Eingang hinter dem Parkplatz empfängt den Urlauber ein immer sauberes Toilettenhaus. Ein Stand, an dem Sandwiches und frisch gepresster Orangensaft verkauft wird, befindet sich gleich nebenan. Und endlich, nach dem T-Shirt-Stand, kommt der Strand.

Schnell wird klar, dass sich die US-Presse geirrt haben muss. Denn der vielleicht tatsächlich drittschönste Strand der Welt liegt rund 300 Meter weiter. Mit jedem Meter in Richtung Chaplin Bay liegen weniger Kreuzfahrer, die für gewöhnlich mit Bussen hierhergekarrt werden. Und schon nach nur 200 Metern läuft man über einen menschenleeren, breiten Strand, der leicht rosa in der Sonne schimmert. Jetzt braucht man nur noch über einen kleinen Felsen am Ende der Horseshoe Bay zu steigen, um einen Privatstrand für sich alleine zu haben. Ein sandiges Stück Land, an das sich türkisblau der Atlantik wirft. Ein Stück Bermuda, wie es im Jahr 1609 die ersten Kolonisten vorgefunden haben – eine Hand voll englischer Seefahrer, deren Schiff am Außenriff zerschellt war.

Doch die Zeiten, in denen die Schifffahrt die Bermudainseln – sie bilden den nördlichsten Punkt des so genannten Bermudadreiecks – fürchtete, sind lange vorbei. Haben die meisten der Legenden, in denen Tanker in ruhiger See spurlos verschwinden und Flugzeuge auf unerklärliche Weise vom Himmel fallen, doch ihren Schrecken längst verloren. Zu verdanken ist das dem Schriftsteller Lawrence Kusche, der in seinem Buch „Die Rätsel des Bermudadreiecks sind gelöst!“ beweist, dass bis auf drei Fälle alle Geschichten frei erfunden oder schlichtweg falsch überliefert sind. Noch heute gilt das 1980 erschienene Werk als Klassiker der skeptischen Recherche. Räumt es doch mit einer ganzen Reihe von Vermutungen und Halbwahrheiten auf, die 1974 von Charles Berlitz und J. Manson Valentine in ihrem Bestseller „The Bermuda Triangle“ in die Welt gesetzt worden waren.

Einer verdient trotzdem noch ein bisschen Geld mit dem Mythos: Heinz Sievers. Der Hausmeister vom Lighthouse Gibbs’ Hill betreibt einen Souvenirladen unten im Leuchtturm. Wenn die Urlauber – rund 40.000 besteigen jährlich den Turm und genießen den wunderschönen Blick über die ganze Insel – in seinem Laden vorbeischauen, steht der Sechzigjährige sicher an der Kasse. Hinter ihm hängt ein Regal, in dem jede Menge kleine hölzerne Nachbauten jener Schiffe stehen, die der Mythos vom Dreieck und das Riff unsterblich gemacht haben. Schiffe wie die „Breslauer“, gesunken 1873, die „Apolla“ aus dem Jahr 1892 und die „Vixen“, 1896.

„Ich verkaufe hier eigentlich alles, was kein Mensch braucht“, sagt der Deutsche, der seit 37 Jahren auf der Insel lebt. Und er meint damit die Postkarten, die T-Shirts mit dem Aufdruck „I survived the Triangle“, „Ich habe das Bermudadreieck überlebt“, die Stoffkatzen, Seemannsmützen und Aufnäher.

Wenn man den Mann mit den blauen Augen fragt, wie er dazu kam, seufzt Heinz Sievers und beginnt von seinem Millionenfehler zu erzählen. Damals, sagt der Mann aus Münster, habe man ihm ein Grundstück mit zwei Häusern angeboten. Das sei 1975 gewesen. „Zwei Häuser für 150.000 Dollar“, sagt Sievers. Und er klingt dabei, als könne er es immer noch nicht fassen, das damals ausgeschlagen zu haben. Heute ist jedes der Häuser 1,5 Millionen Dollar wert. Ein Millionenfehler.

Auf keiner anderen Insel im Atlantik sind die Grundstückspreise derart explodiert wie auf den Bermudas. Dafür verantwortlich sind neben dem begrenzten Platzangebot zum einen die touristische Ausrichtung der Insel, die klar auf die reiche Oberschicht zielt. Zum anderen das Steuerparadies Bermuda, in dem sich rund 400 Banken und vor allem Rückversicherer niedergelassen haben. Die ausländischen Geldmaschinen zahlen ihren Angestellten so hohe Gehälter, dass die 65.000 Einheimischen wie Lenny Holder zum Hauptberuf meist noch einen Nebenjob brauchen, um gut über die Runden zu kommen – wobei der Lebensstandard auf der Insel allgemein hoch ist. Dagegen leisteten sich die Gebrüder Bayer vom gleichnamigen deutschen Chemieriesen bis vor fünf Jahren hier eine kleine Privatinsel für, so erzählt man, 100 Millionen Euro. Das sei eben die andere Seite des „Bermudian way of life“, meint Lenny. Und er sagt das mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, die viele Europäer verwundert und irritiert. Wäre eine vergleichbare Situation bei uns doch wenigstens eine Debatte wert.

Lenny hat Kundschaft. Wie immer kommt er ein wenig zu spät, was ihm der Gast aus Washington nicht übel nimmt, weil Lenny zu dem „Sorry“ wieder sein schönstes Lächeln aufsetzt. Vom Golfplatz soll es in die Hauptstadt Hamilton gehen, wo der Urlauber seiner Frau etwas zum Geburtstag kaufen möchte. Schließlich gebe es dort am Hafen jede Menge Läden mit Designerartikeln. Während der Tour redet der Mann ohne Pause von seiner letzten Platzrunde, mit der er überhaupt nicht zufrieden gewesen sei. Danach erzählt er, dass er für morgen eine Yacht gechartert habe, um am ganzjährig stattfindenden Angelwettbewerb teilzunehmen. Und wenn es ihm gelinge, einen großen Blue Marlin oder einen Greater Amberjack aus dem Wasser zu hechten, sei ihm eine Trophäe so gut wie sicher. Nach dreißigminütigem Monolog ist die Fahrt vorbei.

Der Urlauber aus Washington steht fast schon exemplarisch für das, was Urlauber auf den Bermudas erwartet: Golfspielen auf acht Plätzen, Hochseeangeln ohne Lizenz bei einer Vielzahl von Anbietern und ein weltberühmtes Tauchrevier mit jeder Menge Wracks dicht unter der Meeresoberfläche. „Wer Sport treiben möchte, ist hier richtig“, sagt Lenny. Was an Wassersport möglich sei, könne man auf den Bermudas buchen: Von der Surfschule über geführte Jetskitouren bis zum Wasserskiverleih gibt es alles. Dass die Insel über eine Vielzahl erstklassiger und teurer Restaurants verfügt, in denen ein Steak um die 40 Dollar kostet, erwähnt er nur am Rande. Es gilt der Grundsatz: Genießen ohne Reue. Abschalten auf hohem amerikanischem Standard.

Lenny Holder schaltet am liebsten unamerikanisch ab. Er tanzt Salsa. Wann immer ein Lokal oder ein Club auf der Insel einen speziellen Abend veranstaltet – Holder steppt mit. Die Tanzschuhe, mit denen er schon so manche Meisterschaft eingeheimst hat, liegen ohnehin immer griffbereit hinten im Taxi. Da kann es schon einmal vorkommen, dass Lenny zwischen zwei Fahrten eben kurz mal die Schuhe wechselt, in eine Bar geht und die Dame seiner Wahl zum Tanz bittet. Mit seinem schönsten Lächeln natürlich.