Der systematische Diebstahl

KAPITALISMUSKRITIK Der Ökonom Raj Patel wendet sich gegen seine früheren Arbeitgeber Weltbank und WTO und verlangt eine Demokratisierung der Ressourcen

Hunger, Armut, Klimawandel – für diese Probleme gibt es im Kapitalismus ebenso keine Lösung wie für die Ökonomisierung unserer privaten Beziehungen. Es dennoch zu versuchen ist in etwa so, als würde man den Eisberg bitten, die „Titanic“ zu reparieren. Das findet der Ökonom und Aktivist Raj Patel. Nachdem er für die Weltbank und die WTO gearbeitet hatte, engagierte er sich unter anderem für die Bewegung der Barackenbewohner in Südafrika. In seinem Buch „The Value of Nothing. Was kostet die Welt?“ erklärt er, warum der Kapitalismus in eine Sackgasse geraten ist und wie Alternativen aussehen können.

Um zu zeigen, was schiefgelaufen ist, geht Patel zurück in die Geschichte, in die Anfangszeit des Kapitalismus. Im England des 17. und 18. Jahrhunderts beanspruchten die „einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen“ den Boden für sich, der größtenteils Eigentum lokaler Bauern gewesen und gemeinschaftlich genutzt worden war. Diese Enteignungen bezeichnet Patel als Diebstahl. Mit ihm wurde nicht nur Boden zur „fiktiven Ware“, sondern auch Arbeit: Die von ihrem Land vertriebenen Bauern zogen in die Städte und verdienten ihr Brot fortan mit Lohnarbeit in den Fabriken.

Die Folgen sind bis heute spürbar. Einigen Gütern wird ein hoher Wert beigemessen, Baugrundstücke etwa oder Autos sind teuer. Hingegen spiegelt der Preis anderer Güter nicht annähernd ihre Bedeutung wider: Vor allem die Natur stellt Ressourcen zum Nulltarif bereit. Schicht für Schicht legt Patel die Ursachen frei und analysiert, warum die kapitalistische Marktwirtschaft bei der Preisbildung versagt.

Wer jetzt denkt, dieses Ökonomenkauderwelsch könne er sowieso nicht verstehen, gerade dem sei das Buch ans Herz gelegt. Der Autor hat ein tiefes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge, die er nachvollziehbar in kleinen Schritten und in bestechend einfachen Sätzen entwickelt.

Doch bei der Analyse bleibt der gebürtige Brite nicht stehen. „Die Antwort auf die Tatsache, dass der Markt der Erde den Wert null zuschreibt, ist nicht eine Demokratie, in der die Experten das Sagen haben, sondern die Demokratisierung des Expertenwissens und der Ressourcen“, so Patel. Was das im Einzelnen bedeuten kann, illustriert er durch zahlreiche Beispiele lokaler Initiativen. Er erzählt von den Aktivisten im brasilianischen Porto Alegre, von den Tomatenpflückern in Florida und den mexikanischen Zapatistas, von Fischergemeinschaften in Chile oder Bäuerinnen in Indien. Aus ihrem Engagement schlussfolgert er: Die Betroffenen müssen die Verhältnisse selbst in die Hand nehmen, sich mit anderen zusammentun und notfalls für die eigenen Rechte auf die Straße gehen. Es ist wohltuend, Bücher von solcher Klarheit zu lesen. ULI MÜLLER

■  Raj Patel: „The Value of Nothing. Was kostet die Welt?“ Aus dem Engl. v. Richard Barth. Riemann Vlg, Mü. 2010, 288 S., 17,95 Euro