Nur die Hilfe und der Gutschein zählen

Beim Tauschring Marzahn ist jede Arbeit gleich viel wert. Statt Geld gibt es Gutscheine. Wichtiger als die Bezahlung sind für viele die sozialen Kontakte

VON SEBASTIAN KRETZ

Die Wände müssen neu gestrichen werden? Der Rasen ist schon wieder zu lang? Die Kleider zerrissen? Das wird teuer, jedenfalls für Leute, die im Branchenbuch nachschlagen und einen Profi die Arbeit machen lassen.

Beim Tauschring Marzahn läuft das anders: „Wir handeln mit Dienstleistungen auf Einheitslohnbasis“, sagt Mitbegründerin Monika Schillat. Die Teilnehmer bieten Arbeit an, die sie besonders gut beherrschen. Wer zum Beispiel einem anderen Mitglied eine Stunde lang beim Umzug hilft, bekommt dafür zehn „Marzehner“. Mit diesem fiktiven Verdienst kann der Schränkeschlepper bei einem Dritten beispielweise eine Klavierstunde bezahlen. „Jede Arbeit bringt denselben Stundenlohn“, erklärt Schillat. Die Umzugshilfe ist also nicht weniger wert als der Musikunterricht.

Den Tauschring Marzahn gibt es seit 1997. „In den letzten Jahren haben wir viele Mitglieder gewonnen, inzwischen sind wir über hundert“, sagt Schillat, die in der DDR politische Ökonomie studiert hat. Jeden Monat werde etwa 500-mal getauscht, dabei würden vor allem handwerkliche Arbeiten nachgefragt. „Leider machen zu wenige Leute mit, die so etwas beherrschen. Da gehen Angebot und Nachfrage auseinander“, klagt Schillat. Dabei seien die wenigsten Teilnehmer dabei, weil sie Geld sparen wollten.

Klaus-Jürgen Asstal zum Beispiel geht es vor allem darum, anderen zu helfen und mit eigenen Problemen fertig zu werden. „Ich bin Hartz-IV-Empfänger und will nicht in meinen vier Wänden versauern. Anderen eine Freude zu machen, gibt mir einen Sinn“, so der 44-Jährige, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Jetzt fährt er Umzugswagen für Marzahner Tauschring-Teilnehmer oder hilft ihnen beim Renovieren. Seine Marzehner gibt er aber nur selten aus: „Manchmal brauche ich jemanden, der Näharbeiten erledigt.“ Die restlichen Stunden lasse er verfallen. Für Asstal ist der Tauschring auch Therapie: „Ich habe seit zwei Jahren schwere Depressionen. Die Freunde, die ich hier kennen gelernt habe, waren mein Weg, herauszukommen“, so Asstal.

Auch Sybilla Telschow nimmt am Tauschring teil, auch sie ist arbeitslos – mit Unterbrechungen seit 1992. Und auch sie will „nicht zu Hause verblöden“. Die 56-jährige Telschow macht überall mit: Gemeinsam mit einer Choreografin betreut sie eine Bauchtanzgruppe, auf Festen schießt sie die Fotos, zwischendurch hilft sie im Büro des Tauschrings aus. „Ich bin ein Organisationstalent, hier ist mein zweites Zuhause“, sagt die Tauscherin. Ihre erarbeiteten Marzehner gebe auch sie jedoch „höchstens fürs Haareschneiden“ aus, so Telschow.

Was Hartz IV und 1-Euro-Jobs erreichen sollen, klappt auf freiwilliger Basis ganz von alleine: Langzeitarbeitslosen wieder regelmäßige Beschäftigung zu verschaffen. Der Tauschring habe sich aber nicht nur als eigenständiger Wirtschaftskreislauf entwickelt, sondern vor allem als Kontaktbörse, bestätigt Gründerin Schillat. „Die soziale Komponente ist sehr wichtig.“ Etwa die Hälfte der Mitglieder sei arbeitslos, viele alleinstehend. „Das Tauschen ist für sie ein Weg aus der Isolation“, erklärt die 54-Jährige.

Es stecke aber mehr hinter der Idee der solidarischen Wirtschaft. „Bei uns profitieren alle gleichermaßen, während im Kapitalismus immer einer verliert“, meint Schillat. Schon im 19. Jahrhundert habe es die ersten sozialen Ökonomien gegeben. Während des Wirtschaftswunders sei der bargeldlose Handel auf Einheitslohnbasis jedoch in Vergessenheit geraten. „Erst mit der Massenarbeitslosigkeit Mitte der Achtzigerjahre wurde das Tauschen wieder interessant“, so Schillat. Ab 1990 seien dann die meisten der heute etwa 300 Tauschringe gegründet worden.

Für die Senatsverwaltung für Finanzen ist das Tauschen eine gewöhnliche Einkommensquelle: Wer viele Gutscheine sammle, mache Gewinn, und der müsse versteuert werden, sagt Sprecher Frank Pippig. „Die Gutscheine müssen ihrem Marktwert entsprechend in Euro umgerechnet werden“, sagt Pippig. Bislang habe aber noch kein Gewinnmacher seine Marzehnerstapel zum Finanzamt gebracht. Dass Tauscher wie Asstal und Telschow ihre Gutscheine gar nicht einlösen und damit selbstlos arbeiten, kommt im deutschen Steuersystem nicht vor.

„Der Verzicht auf Bargeld und der Einheitslohn bedeuten, eben keinen Gewinn zu machen“, erklärt Tauschring-Gründerin Schillat das Konzept der alternativen Arbeit. Anwälte, Ärzte oder andere mit hohem Stundensatz sind allerdings beim solidarischen Tauschen nicht dabei. „Das ist eine andere Gruppe Menschen, die machen so was nicht“, sagt Tauscher Asstal. Schillat hat eine andere Vermutung: „Viele sagen sich: So weit unten sind wir noch nicht.“ Für viele Menschen sei das Mitmachen beim Tauschring ein Zeichen des sozialen Abstiegs. Sie glaube daher nicht, dass diese Form der solidarischen Ökonomie einmal die Marktwirtschaft ersetzen könne. Einzige Möglichkeit laut Schillat: „Wenn das globale Finanzsystem zusammenbricht, werden die Tauschringe ihre große Zeit haben.“