Als läge ihr Herz offen

PORTRÄT Die Schauspielerin Julischka Eichel ist ein Improvisationstalent, sie lässt am Maxim Gorki Theater Nebenfiguren oft ganz groß werden. In John Steinbecks „Früchte des Zorns“ hat sie am Samstag Premiere

„Ein Arzt riet mir: ‚Wechseln sie den Beruf.‘ Ich habe dann den Arzt gewechselt“

VON ANNE PETER

Was für eine Ophelia! Sie war der irrlichternde Glanzpunkt in der jugendlich-sportlichen Inszenierung von Tilmann Köhler am Maxim Gorki Theater. Julischka Eichel spielte sie als ein übersprudelndes, ganz und gar zur Liebe hingerissenes Unbedingtheitswesen. Sich balgend mit Laertes, in weißen Turnschuhen mit Rock und Strickpulli über die Bühne rasend, hüpfend, Arm-Flügel schlagend, hysterisch vor Begeisterung bei dem Namen des Geliebten. Vor den Warnungen des Bruders steckte sie feixend die Finger in die Ohren. Hartnäckig in ihrer Hingabe, wehrte sie Hamlets Grobheiten mit Küssen ab. Später zauste sie sich laut singend die Haare, krakeelte und wand sich, dirigierte das Publikum zum Totengesang für ihren Vater.

Diese Ophelia war gerade dann bei sich, wenn sie außer sich war. Eichels Spiel war roh und zart zugleich. Und, so schien es, vollkommen ungeschützt. Als läge ihr Herz offen.

Das war 2008. „Die Figur habe ich sehr verstanden – wie radikal die liebt“, sagt Julischka Eichel heute im Rückblick, eingewickelt in eine schwarze Strickjacke, die langen Haare leicht zerzaust. Ein Hauch von Durch-den-Wind-Sein umgibt die 29-Jährige auch jetzt, beim nachmittäglichen Cappuccino in der Kantine des Maxim Gorki Theaters. „Ich hab oft so ein Chaos im Kopf“, sagt sie. Und wenn sie ihn dann schief legt und lacht, sieht man die kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. „Im Textlernen bin ich ’ne echte Katastrophe.“

Sie improvisiert gern. An der Ernst-Busch-Schauspielschule wurde sie erst beim zweiten Anlauf und nach insgesamt 13 Vorsprechen genommen. „Ich wollte unbedingt auf eine Schauspielschule gehen. Schon immer. Eigentlich wollte ich Filmstar werden. Vom Theater hatte ich gar keine Ahnung.“

Aufgewachsen ist sie in einem kleinen Dorf bei Tübingen, „mitten in der Pampa, mit ganz vielen Tieren“. Ihre Mutter ist Sozialpädagogin, ihr Vater Schreiner und hobbymäßig Jäger. Heute wohnt sie im Bergmannkiez. In ihrer Wohnung hängt ein großes Bild im Stil von Otto Dix. Eichel hat es selbst gemalt. Malerei, das hätte Eichel vielleicht studiert, wenn es mit der Schauspielerei nicht geklappt hätte. Oder Psychologie. Gerade lernt sie Akkordeon spielen.

Am Ende der Ausbildung hatte sie erst mal kaum Angebote, stürzte sich deshalb in ein freies Projekt mit dem Regisseur Kai Ohrem: im Hinterhof-Theater Eigenreich kreierten die beiden aus Dea Lohers Sozialperipherie-Stück „Die Schere“ einen fulminanten Soloabend mit Eichel als Mutter-Vater-Kind in allen Rollen. „Im Studium hat man mir oft gesagt: ‚Sei doch mal ’ne Frau.‘ Ich wirkte offenbar immer sehr mädchenhaft.“ Am Gorki spielt Julischka Eichel beides, Mädchen und Frauen – und oft beides zugleich. Ihr struppiges Kind aus „Bulger“ (2008) beschmierte sich mit Smartiematsch, fauchte und zog die Nase hoch. In Tilmann Köhlers düsterem Zirkus-„Woyzeck“ (2009) war sie eine herausfordernd lebensgierige Marie, mit schwarzen Dreadlocks – kein Opfer, sondern eine, die die Männer an sich heranreißt. Als Sabeth in Armin Petras’ „Homo faber“-Variante verdrehte sie 2008 unwissend dem eigenen Vater den Kopf. Sie parlierte im Handstand, schlitterte mit dem Geliebten (Peter Kurth) bäuchlings über die nasse Bühne – sein alter, schwerer Körper gegen die sprühende Vitalität ihrer Jugend. Seit Ende Oktober ist Eichel als Prothoe in Felicitas Bruckers Inszenierung von Kleists „Penthesilea“ zu sehen. Sie spielt die Gefährtin der Amazonenkönigin (Anja Schneider), mit der sie in einem Schulhof-Guantánamo-Setting im Beste-Freundinnen-Modus herumalbert.

Für ihre zwischen Naivität und Erotik schillernde Lucy in Köhlers Weimarer „Krankheit der Jugend“, wurde Eichel beim Berliner Theatertreffen 2007 von Jurorin Martina Gedeck mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet. Bei der Verleihung sei sie „furchtbar aufgeregt, fast panisch“ gewesen. „Man weiß überhaupt nicht, wie man mit der enormen Aufmerksamkeit umgehen soll, und macht sich selbst am meisten Druck.“ Noch am selben Tag kamen die Angebote: aus Berlin und Weimar.

Im spielfreudigem Gorki-Ensemble kommt ihre Improvisationslust gerade recht. Eichel ist Spezialistin fürs Hinzuerfinden. Im Petras’schen „Kaufmann von Venedig“ lässt sie dadurch eine Nebenfigur ganz groß werden. Tochter und Diener des Juden Shylock werden hier zum kumpeligen Liebespaar, das sich in einem wüsten Filmratezapping alle möglichen Kitschszenen vorspielt und am Ende doch traurig aneinander vorbeistrebt. Eichels Jessica bietet sich den Schickeriamännern mit Schmuck behängt wie in einem Schaufenster dar, wirft ihrem Vater in einer Nonstop-Anbrüll-Szene sein ganzes Leben vor und kämpft am Ende doch herzzerreißend für seine Begnadigung.

Nach dem „Kaufmann“ musste Julischka Eichel wegen eines Bandscheibenvorfalls für mehrere Monate pausieren. In dieser Zeit sah man sie oft als Zuschauerin im Theater. Wenn schon nicht Theater spielen, dann wenigstens Theater gucken. „Ein Arzt hat mir geraten: ‚Wechseln Sie den Beruf.‘ Aber das war ein Idiot. Ich habe dann stattdessen den Arzt gewechselt.“

■ Am 18. Dezember kommt die nächste Premiere mit Julischka Eichel, „Früchte des Zorns“ nach John Steinbeck. In der Regie von Armin Petras spielt sie die Mutter einer armen Farmerfamilie