Subversion aus der Nische?

Der Kongresstitel „Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus“ bringt es auf den Punkt: Die meisten Alternativmodelle setzen inzwischen den Kapitalismus voraus

Werden die Öko-Nischen zu lohnenden Märkten, findet eine kapitalistische „innere Landnahme“ statt

Das Leiden am heutigen Kapitalismus löst diverse Suchbewegungen aus, die auf eine andere ökonomische Praxis gerichtet sind: sei es gegen den Kapitalismus, sei es innerhalb des Kapitalismus, sei es der Versuch, dem Kapitalismus die Reißzähne zu ziehen.

Der strikt antikapitalistische Protest hat es schwer. Angesichts des Desasters der nicht mehr real existierenden Sozialismen diverser Schattierungen kann er nur noch begrenzte Attraktivität entfalten. Zumal in der westlichen Welt fehlt ihm schlicht das revolutionäre Subjekt.

Auch das historisch verdienstvolle sozialdemokratische Projekt einer Zähmung des Kapitalismus scheint seine beste Zeit hinter sich zu haben. Inzwischen haben ausgerechnet die Sozialdemokraten den Primat der Ökonomie als einen „Sachzwang“ zu akzeptieren gelernt. Die Unternehmenssteuern müssen runter. Leistung, Eigeninitiative, Flexibilität sind angesagt. Allenfalls über die Details des Hartz-Systems darf gestritten werden. Im Namen der Solidarität wird der Vorschlag zurückgewiesen, das Arbeitslosengeld I für jene zu verlängern, die Jahrzehnte malocht haben, da man sonst das Geld von jüngeren Arbeitslosen abzweigen müsste. Es kommt der sozialdemokratischen Mitte nicht mehr in den Sinn, das benötigte Geld woanders zu holen – ganz zu schweigen von der Abschaffung des Hartz-Systems. Lediglich der linke SPD-Flügel knirscht mit den Zähnen und wundert sich beim Blick in den linken Außenspiegel, dass Heiner Geißler auf der korrekten Seite überholt.

Schließlich gibt es noch die alten und neuen Suchbewegungen einer solidarischen Ökonomie, gespeist von der Ahnung, dass im Kapitalismus vieles ganz anders sein könnte, gespeist von der Gewissheit, dass vieles ganz anders sein müsste. Dieses Doppelmotiv der Ahnung und Gewissheit beflügelte die kommunitären Experimente der Frühsozialisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung in den 1920er-Jahren oder die Alternativökonomie der späten 1970er-Jahre mit ihren Firmen „ohne Chef“.

Diese Idee einer anderen Ökonomie leitet auch den Kongress „Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus“, der an diesem Wochenende in Berlin stattfindet. Der Titel gibt die Richtung und zugleich die Grenzen solidarischen Wirtschaftens vor: Angestrebt ist eine Ökonomie innerhalb der großen Ökonomie. Im Programm ist die Rede von neuen (und alten) Genossenschaften, selbst verwalteten Betrieben, Wohn- und Gemeinschaftsprojekten, Tauschringen, fairem Handel und dergleichen. Dazu gehört auch das ehrenamtlich tätige „Kochkollektiv Mampfmobil“, das verspricht, die KongressteilnehmerInnen „mit leckerem ökologisch-vollwertigem Essen“ zu versorgen.

Immerhin ist es dem Anspruch nach eine Fremdkörperökonomie, ein Stachel im Fleisch des kapitalistischen Gesamtkörpers. Auch wenn es der Arbeitnehmerflügel der Union anders sehen mag: Kapitalismus und Solidarität vertragen sich schlecht, es sei denn, es handelt sich um die freiwillig und privat gewährte Solidarität des Mitleids, eine Solidarität der Bahnhofsmissionen.

Zum Fremdkörper einer solidarischen Ökonomie innerhalb des Kapitalismus werden ganz verschiedene Haltungen eingenommen. Auf der einen Seite steht als eine Art Speerspitze die Glaubenskongregation des Neoliberalismus. Solange ihre Variante des Kapitalismus den gesamtgesellschaftlichen Takt vorgibt, können sie gelassen zusehen, dass in den Nischen solidarischer Ökonomie aus der Reihe getanzt wird. Die „innere Landnahme“ der noch nicht durchkommerzialisierten Bereiche findet erst statt, wenn sich die Nischen zu „lohnenden Marktsegmenten“ ausgewachsen haben. Dann steht auch Biokost in den Regalen der Supermärkte. Dann scheuen auch die großen Plattenlabels nicht vor sozialkritisch angehauchter Hiphop-Musik zurück.

Auf der anderen Seite, in den Nischen der solidarischen Ökonomie, lassen sich drei Strömungen identifizieren. Die erste Gruppe will einfach in Ruhe gelassen werden bei dem Versuch, ihr Alternativsein lebensweltlich zu perfektionieren: durch demonstrativen Konsumverzicht, durch den mehr symbolischen als realen Gebrauch einer „alternativen“ Tauschwährung im Kreise von Gleichgesinnten: „Suche jemanden, der mein Badezimmer kachelt, biete als Gegenleistung Bauchtanzunterricht.“ Jede Arbeitsstunde hat den gleichen Wert, ausgedrückt in Kreuzern und Talern. Hier ist solidarische Ökonomie vor allem expressive Geste.

Die zweite Gruppe versteht sich als Unkraut, das, festgekrallt in den Ritzen des kapitalistischen Mauerwerks, dieses am Ende sprengen will. Da wird dann beispielsweise darüber nachgedacht, wie man das Zinssystem und schließlich damit den Kapitalismus zu Fall bringen kann. Hier ist solidarische Ökonomie vor allem subversives Programm.

Die Neoliberalen sehen gelassen zu, wie in den Nischen solidarischer Ökonomie aus der Reihe getanzt wird

Die dritte Gruppe will untereinander, aber auch im Verkehr mit anderen, ein Stück weit geschwisterlicher umgehen, will im Schatten von Raffgier und Konkurrenz das Leben lebenswerter machen. So gibt es beispielsweise Wohngemeinschaften und Landkommunen, in deren Gemeinschaftskasse je nach Höhe des Einkommens unterschiedliche Beträge eingezahlt werden. Hier ist solidarische Ökonomie vor allem ideologisch entkrampfte Praxis.

Gleich in welcher Absicht und Ausdrucksform – in allen diesen Fällen verbleibt eine quantitativ eher unbedeutende solidarische Ökonomie auf das Engste verwoben mit dem Kreislauf des kapitalistischen Gesamtkörpers, der sie umgibt, der ihr Strafen und Belohnungen in Aussicht stellt, der sie mit seinen subversiven Botenstoffen durchdringt. Die solidarische Ökonomie ist eben kein großer Wirtschaftssektor „auch in Deutschland“, wie im Vorwort des Kongressprogramms behauptet wird. Das weiß auch die von einer Bausparkasse beauftragte Werbeagentur, die in ihrem genialen Kinospot ein junges Mädchen aus der alternativ aufgehübschten Wagenburg mit Blick auf ein schmuckes Reihenhaus sagen lässt: „Papi, wenn ich groß bin, möchte ich auch Spießer werden.“

So extrem das Machtungleichgewicht zwischen den beiden Ökonomien ausfällt: subversiv wirkende Botenstoffe wandern auch in Richtung der herrschenden Ökonomie. Und diese Botenstoffe sind schwerlich zu neutralisieren, wie die lange Geschichte der solidarischen Ökonomie lehrt. Vielleicht gibt es ja tatsächlich kein richtiges Leben im falschen Leben. Aber zumindest gibt es den Vorschein eines richtigen Lebens – der dann aufblitzt, wenn Menschen sich als Menschen anstatt als Waren behandeln, wenn sie einander helfen, anstatt sich niederzukonkurrieren, wenn sie miteinander füreinander arbeiten, und sei es auch nur in den Nischen von Kleinprojekten. Sozialkitsch, sagt der Zyniker. Nicht totzukriegende reale Utopie, sage ich. Es lebe die solidarische Ökonomie. DIETER RUCHT