IN ARGENTINIEN IST EUROPA EIN KONTINENT VOLLER ARGENTINISCHER FUSSBALLSPIELER – UND VOLLER FALSCHER WIRTSCHAFTSBERATER
: Warum kein Staatsbankrott nach argentinischem Muster?

VON JÜRGEN VOGT

Europa, das ist für viele ArgentinierInnen: Carlos Tévez bei Juventus Turin, Kun Agüero bei Manchester City, Ángel Di María bei Real Madrid und, selbstverständlich, Lionel Messi beim FC Barcelona. Die Liste lässt sich fortsetzen. Als ein gewisser Andrés D’Alessandro beim VfL Wolfsburg kickte, wussten seine Fans, wo VW seine Autos baut, und liefen mit original Wolfsburger Spielertrikots durch die Straßen von Buenos Aires.

Die Spiele der italienischen, spanischen und englischen ersten Ligen werden im argentinischen Kabelfernsehen ausführlich gesendet, einmal pro Woche gibt es ein Bundesligaspiel live. „Wir kennen nicht nur die großen Namen im europäischen Fußball“, erklärt mir Fußballhobbyexperte Miguel Acha. „Erinnerst du dich noch an Rodolfo Esteban Cardoso? Der spielte erst beim FC Homburg und dann in Freiburg. Seither wissen wir, dass es diese Orte gibt.“ Und Karlsruhe: 1977 haben im dortigen „Wilpakestadio“ (Wildparkstadion) die Boca Juniors aus Buenos Aires gegen Borussia Mönchengladbach das Finale im Weltpokal der Vereinsmannschaften ausgetragen.

Die Traumziele der hiesigen Kicker sind jedoch weniger das Saarland und die Rheinebene als Italien und Spanien. Angesichts der argentinischen Einwanderungsgeschichte ist das nicht verwunderlich. Die große Zahl der Migranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam aus Südeuropa. In der großen Wirtschaftskrise Anfang des 21. Jahrhunderts setzte die Rückwanderung ein. Nicht wenige kramten die Geburtsurkunden ihrer Großmütter und -väter aus, um sich damit in die Schlangen vor den europäischen Konsulaten einzureihen und einen italienischen, spanischen, kurz den EU-Eintrittspass zu beantragen.

Seit jedoch die südeuropäischen Länder von der Finanzkrise gebeutelt werden, sitzen sie wieder auf gepackten Koffern. Viele sind bereits zurückgekehrt. „Gerade wir Argentinier sind Experten in Sachen Verschuldung und Zahlungsunfähigkeit,“ sagt Marcela Ponce. Schon die Kleinsten wüssten, was die drei Buchstaben IWF bedeuten: „Nämlich nicht Gutes“, erklärt die Ökonomiestudentin.

Argentinien lebt seit Jahrzehnten mit einer immensen Auslandsverschuldung. 2002 führte sie zum weltweit ersten Staatsbankrott: „Argentinien hat bewiesen, dass sich ein Staat für zahlungsunfähig erklären kann“, so Ponce. Dann sei Néstor Kirchner gekommen, habe einen Schuldenschnitt durchgesetzt und die Wirtschaft wieder ins Rollen gebracht. Griechenland und all die anderen Krisenländer hätten sich besser argentinische Berater geholt, meint sie. „Wir kennen Krise aus der Praxis, nicht aus Lehrbüchern.“

Was ein argentinisches Modell für den Euro bedeutet hätte, beschäftigt die Menschen am Río de la Plata weniger. Sie denken eher, dass die von den Deutschen durchgesetzte Marschroute den Menschen nur Verschlechterungen bringe. „Wird an den deutschen Unis nicht gelehrt, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg seine Schulden erlassen wurden und das Land heute gerade deshalb wieder obenauf ist?“, fragt Ponce.