Des Kammes markanter Klang

„Gib Gummi“: Anhand von 150 Jahren Kautschukindustrie in Hamburg fächert das dortige Museum der Arbeit Facetten des kaum gewürdigten Werkstoffs auf. Extremes Beispiel: Die Gummi-Madonna, die nicht ewig hält und daher für die Serienproduktion nicht in Frage kam

VON PETRA SCHELLEN

Es bleiben nicht viele Rätsel in dieser Welt, das meiste ist bis zur Erschöpfung analysiert. Unbeantwortet blieb aber bisher diese Frage: Warum wird das Phänomen Gummi so wenig gewürdigt – im Alltag, in Literatur, Kunst und Musik? Denn abgesehen von den allgegenwärtigen Plakaten, die dazu aufrufen, „es mit Gummi“ zu machen, wird kaum über diesen Werkstoff philosophiert – vom Lob des Gummistiefels, der Wärmflasche, des Post- und Kaugummis ganz zu schweigen.

Auch die Madonna aus Gummi – derzeit in der Ausstellung „Gib Gummi!“ des Hamburger Museums der Arbeit zu sehen – ist aus der Mode gekommen. Was schade ist, imitiert sie den gotischen Faltenwurf doch perfekt – nur, dass sie eben ein wenig klebt und riecht. Und der so nutzbringende Traktorreifen? Schmählich missachtet in den Werken europäischer Denker, auch optisch im (städtischen) Alltag kaum präsent.

Das war durchaus mal anders: Auf bunt getünchten Plakaten warben die Hamburg-Harburger Phoenix AG und die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie für ihre Produkte. Beide sind Gegenstand der Hamburger Ausstellung, die die 150-jährige Geschichte der dortigen Gummiproduktion beleuchtet.

Was gab es da in den 20er Jahren, der Blütezeit der beiden Firmen, an Plakatmotiven nicht alles zu bestaunen: den Almbauern mit ausgewachsenen Gummistiefeln zum Beispiel. Oder eine Dame, die ihre Wärmflasche vor sich hält, als sei es eine Gitarre. Indizien einer Ära, die, genau genommen, vor langer Zeit die Mayas einläuteten. Denn Latex – der Milchsaft, mit dem der Kautschukbaum Wunden in der Rinde verschließt – war ihnen bestens bekannt. Vasen, Schuhe und kultische Bälle haben sie gemacht aus jenem Material, mit dem die europäischen Kolonisatoren zunächst wenig anfangen konnten. Lange hat man in Europa gebraucht, bis im Jahr 1839 die Vulkanisation erfunden wurde: das Verfahren, das aus dem bei Kälte zerfallenden, bei Hitze klebrigen Kautschuk ein industriell verwertbares Material machte. Und scheint es auch oft, als seien einheimische Polizeiknüppel aus dem – später als das Weichgummi erfundenen – Hartgummi gefertigt, leugnet Jürgen Ellermeyer, der Kurator der Schau, das vehement: „Kegelkugeln sind aus Hartgummi, und die mag man wohl ungern an den Kopf bekommen.“

Doch auch Feineres, aber nicht minder Hartes ist aus Gummi: Kämme nämlich, die die inzwischen von Continental AG übernommene Phoenix AG bis heute produziert. Noch so ein kaum gewürdigter Gegenstand der Alltagskultur. Dieser ist – das wird hier gezeigt – nur unter Aufwendung maximaler Körperkräfte herzustellen. Mit einer Anlage, die der Warmwalzstraße eines Stahlwerks gleicht, wird da gearbeitet, später wird gebimst, werden Zähne gerichtet, poliert und flexibel gemacht. Ein Aufwand, den man nicht ahnt, wenn man sich mal kurz kämmt oder gar mit dem noch feineren Utensil entlaust. „Kamm ist nicht gleich Kamm“, lautete folgerichtig in den 20er Jahren ein Slogan. „Ich biege den Kamm, bis er bricht“, erklärt in einem vorgeführten Film ein firmeninterner Prüfer voller Ernst. „Und anhand des Klangs, mit dem er das tut, erkenne ich, der Kamm ist gut.“

Und wie warb man um 1910 für einen Gummischuh? Sehr einfach: Man zeichnete ihn riesig vergrößert auf ein Plakat und setzte einen Mann hinein wie in ein Boot. Wasserdicht eben. Lauter Vorteile jenes Werkstoffs also, der teils im Pressverfahren, teils – in Medizinhandschuh- und Präservativ-Produktion – im Tauchverfahren verarbeitet wird. Und der doch so vergänglich ist. Denn nur bei dunkler, kühler Lagerung hält Gummi eine Weile. Elastizität hat ihren Preis. Ein Grund dafür, dass ältere Gummi-Produkte in der Hamburger Schau fast fehlen: Sozusagen mumifizierte, für Archäologen interessante Originale gibt es hier nicht zu sehen. Das meiste zerfällt. Übrig bleibt allenfalls die Gussform – etwa für eine Tabakdose aus Hartgummi. Auch ein paar vereinzelte Klarinetten- und Saxophon-Mundstücke sind aufbewahrt sowie ein Telefongriff aus den 20ern. Und ein bisschen bedauert man irgendwann, dass das einstige „schwarze Gold“ stetig dem Plastik weicht.

Vielleicht ist man auch nostalgisch angesichts der Tatsache, dass die Mayas den Kautschuk „Weinender Baum“ nannten. Aber eigentlich ist das biegsame, bröselanfällige Gummi eine treffende Metapher für die Ambivalenz, die der moderne Mensch dem inzwischen oft synthetischen Material entgegenbringt: Es verkörpert einen Mix aus Elastizität und Vergänglichkeit, der allem widerspricht, was uns Religionsstifter und Lebenskünstler weismachen wollen. Denn haben die nicht stets behauptet, der elastische Baum, – sprich: der flexible Mensch – lebe länger als der starre?

„Gib Gummi“: bis 15. 4. 2007, Museum der Arbeit, Hamburg