KIM TRAU POLITIK VON UNTEN: Meine Lieben
Beim Weihnachtsbesuch zu Hause begegnen mir Bilder, die ich lieber nicht sehen möchte. Fotos von einem Jungen, der ich nicht mehr bin. Dessen Familie ihre Tochter aber sehr liebt
Familienbesuche haben für mich etwas von einer Reise in meine Vergangenheit. In die Zeit vor Beginn meiner geschlechtlichen Metamorphose. Überall treffe ich in Bildern auf mein altes Ich, das ohne Hormonbehandlung und Bartepilation, ungeschminkt und in männlicher Kleidung. Das irritiert mich, ist nicht einfach auszuhalten. Immerhin habe ich nach dem Umzug nach Berlin erfolgreich meine Geschichte umgeschrieben, von männlich in weiblich.
Im letzten Jahr begleitete mich mein Freund zum ersten Mal auf meinem weihnachtlichen Familienbesuch. Ich wollte ihm zeigen, wo ich herkomme, und gab vor, ich hätte nichts zu verbergen. Aber schon im Wohnzimmer lasse ich schnell ein Foto aus repräsentativer Lage in einer Schublade verschwinden. Meine Nerven liegen blank, die alten Spiegelbilder scheinen überall zu lauern, in jeder Ecke, in die ich zufällig blicke. Doch außer mir scheint niemand auf die Bilder zu achten.
Wahrscheinlich würden die Fotos noch bedrohlicher auf mich wirken, wenn mich nicht alle so akzeptieren würden, wie ich bin. Wie meine Mutter, die meine Blicke bemerkt hat. Ich muss schmunzeln, als sie sagt: „Ich kann deine Bilder ja schlecht austauschen, wenn du mir nicht ein paar aktuellere gibst!“ In solchen Momenten wird mir klar, wie streng ich oft mit meiner Familie war, gerade was das Pronomen „sie“ betraf und die Endung „-in“.
Einmal hatte ich meine Mutter in Berlin gerade vom Busbahnhof abgeholt und wir wollten ihr noch schnell ein U-Bahn-Ticket besorgen, da wurde sie von einer Gruppe junger Männer angesprochen. Ob wir ihnen nicht zwei Fahrkarten abkaufen wollten? Meine Mutter antwortete: „Also er braucht ja keine, er hat ja ein Semesterticket!“ Ich wäre am liebsten im Boden versunken, stattdessen bin ich wie eine Furie zum Bahnsteig und in die nächste U-Bahn, ohne auf meine Mutter zu achten. Im Nachhinein tat ihr dieser Versprecher wahrscheinlich mehr leid als mir mein unnachsichtiger Abgang.
Erst der gemeinsame Besuch eines Workshops auf der Trans*tagung, zu der sie extra gekommen war, öffnete meine Augen für eine andere Perspektive: Nicht nur mein Leben hat sich verändert, sondern auch das meiner Lieben. Was über viele Jahre in mir heranreifte, sollten sie, nachdem ich mich ihnen offenbart hatte, am besten sofort und bedingungslos mittragen. Doch am Anfang meines Weges war ich viel zu sehr auf mich konzentriert, musste ich es sein, um das zu begreifen.
Für meine Familie bin ich mehr als nur zur Frau geworden, sondern auch zur Tochter, Schwester, Freundin, Enkelin, Nichte und Cousine. Als ich meinen Großvater zum letzten Mal sah, zwei Wochen vor seinem Tod, richtete er sich zum Abschied im Bett auf und sagte: „Lebwohl mein Sohn.“ Es war immer seine Art gewesen, mich so zu verabschieden. Ich hatte einen Monat zuvor meine geschlechtsangleichende Operation gehabt. In dem Moment an seinem Bett, hielt mein Großvater kurz inne und lächelte.
Er korrigierte sich: „Nein, das ist ja jetzt meine Tochter!“ Seitdem habe ich das Gefühl, wir waren miteinander im Reinen.
■ Die Autorin ist Studentin und leitet eine Trans*-Jugendgruppe in Berlin Foto: privat
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