Ein letzter Kuss für den besten Freund

ABSCHIED Bei einer Trauerfeier nehmen die Bewohner der besetzten Flüchtlingsschule Abschied von ihrem ermordeten Mitbewohner. Anschließend wird die Leiche zu seiner Familie nach Marokko überführt

In schwarze Plastikfolie ist der Sarg gewickelt, bereit zum Abtransport. Er liegt etwas erhöht auf einem Rollwagen. Wie ein Fremdkörper wirkt er auf dem roten Ascheplatz. Dahinter parkt parallel dazu der Leichenwagen. Ein grüner Teppich mit goldenen arabischen Inschriften verdeckt zum Teil das unschöne Plastik. Im Sarg liegt Anwar Rabouli.

Der Marokkaner war am 25. April, zwei Tage nach seinem 31. Geburtstag, in der Kreuzberger Gerhart-Hauptmann-Schule von einem anderen Bewohner der besetzten Schule erstochen worden. Seine Identität war zunächst unklar, vor zwei Wochen konnte die Polizei sie anhand seiner Fingerabdrücke feststellen. Daraufhin habe man die marokkanische Botschaft informiert, so ein Polizeisprecher.

Am späten Freitagvormittag versammeln sich nun rund 50 Menschen, hauptsächlich Männer und Bewohner der Schule, auf dem Sportplatz der Schule, um Abschied von Rabouli zu nehmen. Am Samstagmorgen soll ein Bestattungsunternehmen den Leichnam nach Fès in Marokko überführen. Dort, sagt Mohamed Lahrima von der marokkanischen Gemeinde in Kreuzberg, warte seine trauernde, schwer kranke Mutter auf ihn, die „dennoch überglücklich ist, dass ihr Sohn den Weg zurück zu ihr finden wird“.

Am Rande der Trauerfeier erzählt der beste Freund, Mokhtar Lecheheb, von seiner letzten Begegnung mit Rabouli, drei Tage vor dessen Tod. „Er war an diesem Abend wie eine Mutter zu mir.“ Lecheheb sitzt im Rollstuhl. Sie hätten mit ein paar Freunden in der Schule die Nacht hindurch geredet. Um vier Uhr morgens sei es dann zu spät gewesen, um mit dem Zug nach der Stadt Brandenburg zurückzufahren, wo er wohne, so Lecheheb. „Anwar hat sich um mich gekümmert, mir ein Bett bereitet und mich zugedeckt.“ Tränen füllen die Augen des jungen Algeriers.

Er habe Anwar vor fünf Jahren in einem Café in Kreuzberg kennengelernt, erzählt Lecheheb weiter. Es sei Freundschaft auf den ersten Blick gewesen. Um so trauriger mache es ihn, dass er Anwar jetzt gehen lassen müsse, er hätte ihn gerne nach Marokko begleitet.

In drei Reihen stellen sich die Anwesenden vor dem Sarg zum stillen Gebet auf. Die Muslime haben den Blick nach Mekka gerichtet, nur ihre gelegentlichen „Allahu akbar“-Rufe unterbrechen die Ruhe. Der marokkanische Gemeindesprecher richtet noch einige Worte an die Versammelten. Dann treten viele ein letztes Mal an den Toten heran. Auch Mokhtar Lecheheb rollt sich zu seinem besten Freund. Zum Abschied küsst er den Sarg.

MARKUS MAYR