Frischer Fisch aus Fukushima

FESTIVAL Im Jahr drei nach dem Nuklearunglück: Bei „Japan Syndrome“ gibt es mit Theater, Installationen und Filmen eine dokumentarische Innenschau der japanischen Gesellschaft – bis Donnerstag im Hebbel am Ufer

Die alltäglichen Entscheidungen sind plötzlich existenziell, Einkäufe am Obst- oder Fischstand vom Verlust alter Gewissheiten geprägt

VON SIMONE KAEMPF

Können mit Wasser gefüllte Plastikflaschen vor radioaktiver Strahlung schützen? Ein Lehrer aus Fukushima sagt Ja. In Selbstversuchen will er herausgefunden haben, dass die Strahlung hinter einer solchen Schutzmauer geringer ist. In seinem Klassenraum hat er deshalb Wasserflaschen aufgestellt. Solch eine Flaschenwand steht nun im ersten Stock des Hebbel-Theaters, nachgebaut von dem deutschen Künstlerduo Nina Fischer und Maroan el Sani als Teil eines kleinen Kunstparcours im Rahmen des Festivals „Japan Syndrome“, das in allen drei Häusern des Hebbel am Ufers (HAU) nach „Kunst und Politik nach Fukushima“ fragt. Auch in der Videoinstallation „Spirits Closing Their Eyes“ von Fischer und el Sani tauchen diese Flaschen auf: Am Strand einer Bucht stellen zwei Japanerinnen sie zu einer Reihe auf, die allmählich die Kühltürme eines Atommeilers verdeckt.

Ein Sarkophag aus Plastikflaschen? Eine skurrile Idee, an deren Wirkmacht man kaum glauben mag. Aber selbst Geigerzähler scheinen im Moment keine gültigen Beweise zu liefern. Weil sich die Ergebnisse unterscheiden, weil Beschwichtigungen die Regel sind. Um diese neue Ungewissheit geht es seit Dienstag in vielen Arbeiten bei dem noch bis zum Donnerstag dauernden HAU-Festival, das einen Einblick gibt in den japanischen Alltag seit der Kernschmelze von Fukushima im März 2011.

Japans Three-Eleven

Als „three-eleven“ wird die Katastrophe in Japan bezeichnet, in Anlehnung an Nine-Eleven – ähnlich verstörend wie der Al-Qaida-Angriff auf die USA am 11. September 2001 hat das Ereignis die Bevölkerung getroffen. Alltägliche Entscheidungen sind plötzlich existenziell, Einkäufe am Obst- oder Fischstand vom Verlust alter Gewissheiten geprägt. Tadasu Takamine hat solche Verkaufsgespräche in seiner Videoserie „Japan Syndrome“ nachgestellt. „Sind die Pfirsiche aus Fukushima sicher?“, wird da gefragt. Oder was ist mit den Seealgen aus der Präfektur Ibaraki nahe Fukushima? Alles einwandfrei, so die Marktfrau, denn der Großhändler sagt, er verschicke nur, was geprüft sei. Am Blumenstand verteidigt die Verkäuferin radioaktive Belastung, denn einige Pflanzen würden gut darauf reagieren. Und beim Reisweinkauf appelliert eine Frau, dass es keinen Grund für Paranoia gebe, weil sich die Reisbauern doch gut um ihre Produkte kümmern.

Die knappen Dialoge offenbaren die Unmöglichkeit einer absoluten Antwort auf die Gefahr der radioaktiven Belastung, und man ahnt, dass viel mehr erschüttert ist als nur der Glaube an gesunde Ernährung.

Man kann mit der Frage nach dem Sicherheitsabstand zu Fukushima natürlich auch so ironisch umgehen wie die Musiker von Tori Kudo, die am Mittwoch bei ihrem Konzert zu Beginn mit jazziger Untermalung erst mal die Kilometerentfernung ihrer Wohnung von dem havarierten Kernkraftwerk angeben. Agitatorisch sind die japanischen Künstler jedoch nie. Zwar taucht in einem Video mal eine Gruppe Demonstranten auf, politische Radikalisierung findet sich jedoch nirgends. Stattdessen dokumentieren die Arbeiten bei „Japan Syndrome“ die Stimmung in der Bevölkerung, die der Autor und Theaterregisseur Toshiki Okada für zutiefst verunsichert durch die Spirale der Ereignisse hält.

„Dass es auf die Frage nach der Sicherheit vor Strahlenbelastung keine zuverlässige Antwort gibt, bedeutet Stress für alle. Viele blenden die Gefahr einfach aus, andere machen sie ständig zum Thema. Diese Spaltung bedeutet in einer auf Gleichklang justierten Gesellschaft wiederum neuen Stress“, erzählt Okada, der in seiner Inszenierung „Current Location“ solch unterschiedliche Haltungen durchspielt. Sieben Frauen, Freundinnen und Geschwister, berichten von einer Wolke, die über dem Dorf auftauchte und Unheil verheißt. Die Bedrohung bleibt diffus, die Reaktionen sind konkret. Die zarte Hana wünscht sich jemanden, um ihre Ängste zu teilen. Maiko reagiert zornig, weil niemand mehr weiß, was er denken soll. Das andere Extrem ist Kasumi, die die neue Angst für die eigentliche Bedrohung hält.

Okada wird auch mit einer zweiten Arbeit beim Festival vertreten sein: „Super Premium Soft Double Vanilla Rich“ spielt in einem 24-Stunden-Convenience-Shop, wie es sie in Tokio zu Hunderten gibt, Sinnbild für die japanische Konsumlust, die nach Fukushima ungebrochen ist.

Kleine Irritationen

Verändert haben sich die Beziehungen der Menschen, und es sind die kleinen Alltagsirritationen, die auch in anderen Festival-Arbeiten auffallen. Oft erst auf den zweiten Blick. Da posiert in einem Video eine junge Familie mit ihrem Kind auf dem Arm, der Familienvater hält allerdings auch einen Geigerzähler in der Hand. Oder man sieht eine Frau, die von Anti-AKW-Protesten in den 80er Jahren in Japan berichtet und sich dabei, trotz Fukushima, zu einer Entschuldigung genötigt fühlt, dass die Aktionen nicht unrecht gewesen seien. Und für sein „Referendum Project“ hat Akira Takayama Interviews mit MittelschülerInnen im Alter von 12 bis 14 Jahren geführt, die in Fukushima, Hiroshima oder Tokio leben. Wie erwachsen ihre Antworten ausfallen, verwundert einen und ergibt doch ein subtil aufgeladenes Stimmungsbild einer Gesellschaft, die sich um Normalität müht.

■ „Japan Syndrome“ bis 29. Mai im HAU; „Super Premium Soft Double Vanilla Rich“, 28./29. Mai, HAU2, 20 Uhr. www.hebbel-am-ufer.de