Vom Rätsel des Daseins

ZEUGNIS In den Tagebüchern seiner Tante verbergen sich Geheimnisse eines Lebens. Der Neffe, der mit den Büchern lebt, kann sie nicht lesen

VON THOMAS FEIX
(TEXT) UND LISA BAHNMÜLLER (FOTOs)

Früher ist er vom Tisch aufgestanden, und sie hat mit dem Abräumen des Geschirrs begonnen. Den Haushalt hat Tante Anna für Andreas mit besorgt, die Mahlzeiten zubereitet, auf- und abgetragen. Und zu seiner Zerstreuung hat sie ihm aus ihren Erinnerungen vorgelesen. Wie an Sohnes statt hatte sie den jüngsten ihrer sechs Neffen zu sich ins Haus genommen, nachdem er volljährig war.

Heute ist Andreas Assbichler neunundfünfzig, und den Haushalt macht er selbst. Marmor- und Käsekuchen nach Tante Annas Rezepten backt er, nur die von ihrem Rotweinkuchen und ihren Buchteln hat er nicht. Schweinsbraten, wie sie ihn gegart hat, kriegt er ebenso wenig hin. Feiner Biss, die Kruste und das Fleisch so zart.

Mit neunundachtzig ist sie 2007 gestorben. Seit dem Jahr lebt Herr Assbichler allein im Haus auf dem Gschwingerhof, Obermoosen in Oberbayern, sechs Kilometer weit von Rosenheim entfernt. Es geht ihm gut, sagt er, im Grunde genommen fehle es ihm an nichts. Er ist Beamter im sechsunddreißigsten Dienstjahr, und außerdem vermietet er Ferienwohnungen an Sommergäste. Nur in Tante Annas Erinnerungen, in ihren Tagebüchern, kann er nicht lesen.

Poesiealben sind es, in denen sie die Tage und deren Ereignisse festgehalten hatte, die ihr des Aufzeichnens für wert erschienen waren. Schmale Bände, dicke, bunte, einfarbige, verschiedene Formate. Bände, von denen der älteste fast achtzig Jahre alt ist und der jüngste von 2003, dem Jahr, in dem sie das Tagebuchschreiben aufgegeben hat, hat aufgeben müssen. Ihre Augen hätten es nicht mehr mitgemacht. Zwei Jahre darauf hat sie auch mit dem Vorlesen für Herrn Assbichler aufhören müssen – wieder wegen der Augen.

Womöglich, so sagt er sich, stehen das Rezept für Rotweinkuchen und das für Buchteln irgendwo in einem der sechzig Tagebücher. Könnte doch sein bei insgesamt zwanzigtausend beschriebenen Seiten. So viele sind im Verlauf der Jahre zusammengekommen. „Werde einmal nachsehen, das habe ich mir bestimmt aufgeschrieben“, hatte die Tante immer gesagt, und sehr oft hatte sie es sich tatsächlich aufgeschrieben.

Die gesprochene Schrift

Die Alben verwahrt Herr Assbichler im Vertiko in ihrem Zimmer in der ersten Etage. Fenster zu Bergen und Wiesen hinaus, Tapeten in warmen Farben und Bilder an den Wänden. Er hat dort nichts verändert. Alles ist genauso wie damals, als sie darin gewohnt hat. Mit Biedermeiertisch und -stühlen, mit Klavier, Schreibsekretär und dem Kronleuchter.

Wäre er dazu imstande, würde Herr Assbichler in den Tagebüchern lesen, und das wahrscheinlich jeden Tag. Nicht dass er Schwierigkeiten damit hätte zu lesen. Aber er vermag es nicht, die Schrift zu entziffern, in der die Tante die Einträge vorgenommen hat. Höchstens fünf Prozent davon, eher ein Prozent jedoch, denkt er, kennt er von Tante Annas Lesestunden her, die Teil seiner Kindheit, Jugend und des Erwachsenseins sind. Die Gegenwart der Bücher, sagt er, verstärkt das Andenken an die Tante in ihm und seine emotionale Bindung an sie, und bei alldem ist er nicht in der Lage dazu, in ihnen zu lesen. In Stenografie hatte sie das Papier der Alben beschrieben, in der „Deutschen Einheitskurzschrift“, die bis 1945 in Deutschland gebräuchlich war. Das ist das Problem für Herrn Assbichler daran.

Drei Jahre nach Machtantritt der Nationalsozialisten hatte Anna mit den Stenogrammtagebüchern angefangen. Zwar hatte sie im Alter von acht Jahren mit den Bemerkungen zum Tag eingesetzt. Aber das sind bis zum Ende der Schulzeit hin Kommentare in Schreibschrift zu Klassenkameradinnen und Ähnlichem, nichts von Gewicht für Herrn Assbichler. Entscheidend sind ihm die Protokolle in Stenografie. Sie gehen über Privates hinaus, sie spiegeln Politisches wider. Weil sie die NS-Erziehungsgrundsätze ablehnte, deshalb hatte Anna 1936 in ihrem Beruf als Kindergärtnerin aufgehört und hatte eine Stelle bei der Sparkasse in Rosenheim angenommen. Achtzehn war sie da.

Klatsch wiederzugeben, davor scheute sie sich beim Tagebuchführen nicht. Wer ihrer Bankkunden mit wem Streit hatte und wer mit wem fremdgegangen ist, darüber berichtete sie. Oder im Tonfall einer Zeitungsmeldung über Sterbefälle und Unglücke. Worüber so in der Stadt geredet worden ist.

Bald aber schrieb sie auf, dass die Kontonummer mancher ihrer Kunden plötzlich aus dem Register gelöscht war und die Leute selbst ebenfalls verschwunden waren. Juden und andere Unliebsame, die in Konzentrationslager geschafft worden waren. Unter den Angestellten der Bank war das Verfahren bekannt. Es im Tagebuch niederzulegen, wie Anna es tat, war gefährlich.

Dass die Behörden sie beobachteten, wusste sie, sie galt ihnen als Person, die sich fernhielt vom Regime. Herr Assbichler zählt weitere Episoden auf, die sich ihm bei Tante Annas Lesungen eingeprägt haben.

Das Blutrot des Himmels bei Sonnenuntergang an einem Abend im August 1939 beschreibt sie und deutet es als Vorzeichen unheilvollen Geschehens. Vier Jahre später schreibt sie darüber, dass sie nach dem Endsieg zusammen mit anderen als Nörglerin und Querulantin nach Sibirien verschickt werden wird. Es gibt solche Listen, schreibt sie, und in den Wochen vor der Kapitulation wird es der Tagebücher wegen bedrohlich für sie. Ein General, eine Wehrmachtseinquartierung, will von ihr wissen, was genau in den Alben drinsteht. Sie trägt ihm aus ihnen vor, doch ist er damit nicht zufrieden und bestimmt daher, dass sein Adjutant die Bücher überprüfe. Der kennt sich mit Stenografie aber nicht aus und kann deshalb genauso wenig wie sein Vorgesetzter etwas mit den Schriftstücken anfangen.

Hitlerjungen erwähnt sie, deren Befehl es ist, aus einer Hausruine heraus auf Amerikaner zu schießen, die Rosenheim besetzt haben, und wie die Soldaten so lange mit einer Maschinenkanone in die Ruine hineinhalten, bis von den Jungen nichts mehr übrig ist.

Den ersten Tag im Mai 1945 schildert sie. So eisig kalt und verschneit ist er, dass sich die Amerikaner in den Straßen der Stadt um Holzfeuer drängen, die in Benzinfässern brennen.

Frauen nennt sie namentlich, die in der Rosenheimer NSDAP Positionen innegehabt haben und jetzt mit GIs gehen, sich ihnen an den Hals werfen, wie sie es formuliert. Nachdem sie die Währungsunion 1948 und die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion 1955 behandelt hat, werden die Notizen wieder privater.

Das Fräulein Forstner von der Sparkasse ist sie für die Leute in Rosenheim gewesen. Das Fräulein hinterm Schalter, das von zweitausend Kunden der Bank die jeweilige Kontonummer im Gedächtnis gehabt hat.

Geheiratet hatte sie nie. Deswegen hatte sie auch keine Kinder. Uneheliche wären für sie als Katholikin nicht in Betracht gekommen. Zum Ruhestand zog sie von Rosenheim auf den Gschwingerhof um. Ihren Neffen Andreas bat sie, zu ihr zu ziehen.

Die geschriebene Sprache

Eine Frau hat er nicht, sagte sie zur Begründung zu ihm, und bereits als Kind und Jugendlicher hatte er häufig bei ihr in Rosenheim gewohnt, und sie hatte für ihn gesorgt und ihm aus den Tagebüchern vorgelesen. Ein Beisammensein, das sie jetzt im Alter gern ständig hätte. Um sein Wohlergehen würde sie sich kümmern, und er könnte sich dafür ganz seiner Arbeit als Justizvollzugsbeamter widmen. Einer Familie gleich wären sie. Über beinahe dreißig Jahre hinweg ist so ihrer beider Verhältnis zueinander gewesen, und Herr Assbichler hat es darüber versäumt, sich um eine Frau für sich zu bemühen. Er wünscht sich nun nichts so sehr, als Tante Annas Berichte zu lesen.

Er hat daran gedacht, selbst Stenografie zu erlernen. Aber er hat die Ruhe dafür nicht. Der Gefängnisdienst, meint er, nehme ihn in Anspruch, und daneben habe er Hof und Ferienwohnungen zu bewirtschaften. Er hat also beschlossen, sich die Stenografie für sein Dasein als Pensionär aufzuheben. Er wird dann Muße dafür haben, sich mit den Schriftzeichen auseinanderzusetzen. Neun Jahre, hat ihm ein Stenografiefachmann beschieden, würde das Übersetzen der Bücher so dauern. Er freut sich darauf. In Stapeln liegen sie in den unteren Fächern des Vertikos, ein Schatz für Herrn Assbichler. Und eine Art von Mysterium.