: Jekyll and Hyde
DEMOKRATIE Hauke Brunkhorst ergreift Partei für ein visionäres Europa. Technokratie und Austeritätsregime hin oder her: Das europäische Projekt bleibt ein offener Prozess
VON ISOLDE CHARIM
Das ist mal ein fulminantes Buch. Wenn Adjektive in Rezensionen nicht so abgelutscht klingen würden, dann müsste man glatt schreiben: brillant und leidenschaftlich, komplex und spannend – alles gleichzeitig und ohne dass es sich widersprechen würde. Denn es ist eine alte linke Wahrheit, dass Analysen parteiisch sein müssen.
Punktgenau zu diesen so wichtigen Europa-Wahlen legt Hauke Brunkhorst sein Buch: „Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie“ vor. Es ist dies eine Bestandsaufnahme von Geschichte und Gegenwart der europäischen Union. Dieses Europa hat nicht zwei, es hat ein doppeltes Gesicht wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde: die „Logik der Emanzipation“ und die „Logik der technokratischen Verwaltung“.
Und gerade jetzt, wo es Mr. Hyde gelingt, aus der EU eine reine Wirtschaftsverfassung zu machen, ist es um so nötiger, an das andere Gesicht zu erinnern und dessen verschlungene Wege nachzuzeichnen. Dr. Jekyll – das ist jener Kantianer, jene republikanische Haltung, die den Ursprung des europäischen Projekts gebildet hat. Wobei der Autor deutlich macht, dass dieses verdrängte emanzipatorische Potenzial sich keineswegs in feierlichen Erklärungen und in kitschiger Friedensrhetorik erschöpft, sondern republikanischen Widerstand meint.
Etwa jener des Europäischen Gerichtshofs. Brunkhorst zeichnet nach, wie seit den 1960er Jahren durch Serien individueller Klagen eine europäische Rechtsverfassung erzeugt wird, die allen Europäern einklagbare Rechte verleiht und damit die Fiktion einer autonomen europäischen Bürgerschaft verwirklicht. Juristisch gibt es also bereits einen europäischen Demos. Natürlich ist aber auch der Europäische Gerichtshof ambivalent und kann durchaus konservativ sein. Aber wenn es gut geht, dann hält das Gericht, so Brunkhorst, den „Platz für die noch nicht realisierte Demokratie frei“.
Aber das reicht natürlich taktisch nicht aus, um Mr. Hyde zu stoppen – jenes andere Gesicht Europas, das Brunkhorst als den „kollektiven Bonapartismus“ einer unheilvollen Allianz von Investitoren und demokratischen Staaten bezeichnet. Und es reicht demokratisch nicht aus. Genau deshalb bedarf es eines starken europäischen Parlaments.
Brunkhorst würdigt durchaus das Erstarken des EU-Parlaments. Gleichzeitig aber sei es ein Parlament ohne außerparlamentarisches öffentliches Leben. Die Nachricht von der Stärke des Europaparlaments bedurfte juristischer Forschung und wissenschaftlicher Publikationen, um sich zu verbreiten. Am Ohr der breiten Öffentlichkeit sei diese Nachricht, so Brunkhorst, vorbeigegangen.
Das Buch schreibt aber keineswegs eine kontrafaktische Erfolgsgeschichte des kantianischen Dr. Jekyll. Ganz im Gegenteil. Und so kommt es unweigerlich zu der unvermeidlichen Frage: Was tun? Wer das wüsste – lautet die seufzende Antwort. Um dann aber doch Strategien zur Eindämmung der „Liberalisierungsmaschine“ zu skizzieren. Ist ein Weg zurück in den Nationalstaat, wie ihn Wolfgang Streeck vorgeschlagen hat, ein Ausweg aus dem „ökonomischen Belagerungszustand“, in dem das Kapital Europa hält? Brunkhorst hält dem ein sehr explizites Nein entgegen. Nein, denn es würde nichts daran ändern, dass der soziale Klassenkampf zum nationalen Existenzkampf umgepolt wurde. Nein, denn die Folgen wären ökonomisch unabsehbar und normativ ein Rückschritt.
Und so optiert Brunkhorst für eine Flucht nach vorn. Hat sich das Kapital in rasender Geschwindigkeit transnationalisiert, so gelte es gerade jetzt auch den demokratischen Klassenkampf zu transnationalisieren. Das ist es – das Klassenkampfwort. Ganz unaufgeregt kehrt es zurück. Und mit ihm das ganze klassische Setting: eine europäische Öffentlichkeit, ein starkes EU-Parlament und transnationale Gewerkschaften. Kurzum – Brunkhorsts Programm ist das einer transnationalen Rekonstruktion der Arbeiterbewegung. Natürlich ist ihm bewusst, dass eine solche nicht vor der Türe steht. Und so setzt er auf die Krise. Sie soll jene Mobilisierung bewirken, die es braucht, um die Investitorenverfassung des Mr. Hyde in eine Sozialstaatsverfassung Europas zu verwandeln. Das Buch sei, heißt es am Anfang, angesichts der Lage „hilflos, aber nicht ohne Hoffnung“.
■ Hauke Brunkhorst: „Das doppelte Gesicht Europas“. Suhrkamp, Berlin 2014, 216 S., 16 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen