Die ungeliebte Minderheit

ROMA Die EU versucht, ihre Situation in Osteuropa zu verbessern. Doch die Maßnahmen greifen nicht

VON DENA KELISHADI
UND DANIEL BAX

BERLIN taz | Das Viertel Stolipinowo mit seinen 40.000 Einwohnern liegt im Nordosten von Bulgariens zweitgrößter Stadt Plowdiw. Hier wohnen die Roma in einem Ghetto, das aus sozialistischen Wohnblöcken besteht. Durch die Häuserwände ziehen sich Risse, der Rasen ist übersät mit Müll und in den Straßen staut sich das Abwasser. Weil es für die allermeisten hier keine Arbeit gibt, zieht es viele nach London, Paris – oder nach Dortmund, wo man, wie in Plowdiw, Türkisch spricht und versteht.

Etwa zehn bis zwölf Millionen Roma leben in der Europäischen Union. Sie sind die große Minderheit des Kontinents, doch ihre Lage ist vielerorts in Südosteuropa und auf dem Balkan so prekär wie in Plowdiw. Hierzulande gerät dies erst in den Blick, wenn Roma in deutschen Städten auf der Straße landen. Seit auch Bürger aus Bulgarien und Rumänien in der EU die volle Freizügigkeit genießen, warnt die CSU vor „Armutsmigration“ und „Sozialtourismus“. Die Kanzlerin schloss sich dieser Sichtweise jetzt an, ihre Regierung wird die Gesetze gegen angeblichen „Sozialmissbrauch“ durch EU-Bürger verschärfen.

Der Sozialforscher Sebastian Kurtenbach forscht zur Armutsmigration und hat die Menschen im Plowdiwer Roma-Getto besucht. Als er dort erzählte, dass in Deutschland viele glauben, viele Roma würden der Sozialleistungen wegen nach Deutschland ziehen, erntete er damit nur Verwunderung. Von Sozialleistungen hörten hier viele zum ersten Mal.

Die Plowdiwer Roma schrieben deshalb einen offenen Brief an Angela Merkel, den Kurtenbach mit nach Deutschland nahm. „Niemand von uns verlässt gerne seine Familie, sein Haus, seine Heimat, um in einem fremden Land zu arbeiten“, heißt es darin. Doch die Not treibe viele gen Westen, denn: „Im Gegensatz zu unserer Heimat finden wir dort Arbeit.“

2005 erklärte die EU das bevorstehende Jahrzehnt zur „Dekade zur Inklusion der Roma“. Drei „Roma-Gipfel“ hat sie seitdem abgehalten, den letzten im April 2014. Drei Jahre zuvor hatte sie per „Roma-Aktionsprogramm“ ihre Mitglieder verpflichtet, nationale Roma-Strategien zu beschließen. Rund 26,5 Millionen Euro hat die EU seit 2006 ausgegeben, damit die Lage der Roma-Minderheiten in den Ländern verbessert werden soll. Genützt hat all dieses wenig.

„Maßlos enttäuscht“, ist Marko Knudsen deshalb. Er war Delegierter des „European Roma and Travellers Forum“ (ERTF) beim Europarat. Zwanzig Jahre habe er „den Europazirkus mitgemacht“, jetzt habe er sich aus der EU-Politik zurückgezogen. Die Europäische Kommission und ihre Unterorganisationen hätten „keine Agenda, keine Ideen und nichts bewirken können“, sagt Knudsen. Keines der europäischen Länder habe in den vergangenen Jahren die bereitgestellten finanziellen Mittel der EU ausgeschöpft. Außerdem verkenne die EU einen entscheidenden Punkt: den Hass gegenüber Roma. Erst wenn man die teils jahrhundertealten Vorurteile gegenüber Roma bekämpfe, glaubt Knudsen, könnten Programme zur Förderung von Roma wirklich Erfolg haben. Er fordert von der EU mehr politischen Druck und eine öffentliche Diskussion über Antiziganismus. Das ERTF will konkrete Sanktionen gegen Länder wie Bulgarien, die ihrer Pflicht, die Menschenrechte der Roma zu schützen, nicht gerecht werden.

Der Grünen-Politiker Romeo Franz, ein Sinto aus Ludwigshafen, ist sich nicht sicher, ob solche Maßnahmen sinnvoll sein können. „Dann müsste man ja auch Deutschland sanktionieren, weil Roma auch hier diskriminiert werden.“ Der Kandidat für die Europawahl reiste 2013 in verschiedene Länder des Balkans. „Das große Problem dort ist Korruption“, sagt Franz. Die EU-Fördermittel kämen „nur in kleinen Tröpfchen dort an, wo sie ankommen sollen“.

Der Sozialforscher Kurtenbach bestätigt das. Neben der Arbeitslosigkeit sei es die alltägliche Diskriminierung, unter der die meisten litten. Ein Roma, der Betriebswirtschaft studiert habe, werde spätestens beim Bewerbungsgespräch abgelehnt. „Nachdem der Arbeitgeber die dunklere Hautfarbe sah, hieß es: Entschuldigung, die Stelle ist schon vergeben“, zitiert er ein Beispiel. Viele Eltern in Plowdiw hätten deswegen aufgegeben und würden den eigenen Kindern vom Studium abraten.

Die Roma in Bulgarien bräuchten Beschäftigung, mehr Bildung und eine bessere Infrastruktur, sagt Kurtenbach. Doch Bulgarien habe es aufgegeben, die Roma zu integrieren, und die Aufgabe der EU überlassen. Die Bewohner von Plowdiw sehen das genau so wie der Wissenschaftler. In ihrem Brief schreiben sie deshalb: „Niemand fühlt sich verantwortlich und auf uns allein gestellt bleibt uns nur die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten.“