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AKW im Blindflug

Materialermüdung wird in Neckarwestheim nur noch berechnet. Die Materialproben wurden entfernt

HEIMERTINGEN taz ■ Im Atomkraftwerk Neckarwestheim wird künftig vollständig auf Materialproben in unmittelbarer Nähe des Reaktorkerns verzichtet. Die wurden bislang eingesetzt, um mögliche Materialermüdungen diagnostizieren zu können. Der Betreiber begründet den Schritt damit, dass nun genug Daten vorlägen, um weit über die Lebenszeit der Reaktorblöcke hinaus die Materialermüdung berechnen zu können. Die Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar und das Aktionsbündnis Castor-Widerstand Neckarwestheim vermeldeten gestern, dass jetzt die erforderlichen Prüfungen, wie weit die Versprödung des Reaktorbehälters fortgeschritten ist, nicht mehr vorgenommen werden. „Das heißt im Klartext, tatsächliche Werkstoffkontrollen kann es künftig nicht mehr geben, nur noch statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen“, sagte Jörg Schmid vom Bund der Bürgerinitiativen.

Die letzten Materialproben wurden im Reaktorblock II im Frühsommer entfernt. Im Reaktorblock I hängen sie bereits seit 1984 nicht mehr. Die AKW-Gegner sprachen hier von einem „erheblichen Sicherheitsdefizit“.

Sprecher des baden-württembergischen Umweltministeriums und des Betreibers Energie Baden-Württemberg (EnBW) wiesen die Vorwürfe zurück. EnBw-Sprecher Ulrich Schröder sagte der taz, dass die Proben einen sehr genauen Blick in die Zukunft zulassen. Die kernnahen Materialproben, die aus dem gleichen Material wie der Reaktordruckbehälter seien, seien einer extrem hohen Strahlenbelastung ausgesetzt worden, die rechnerisch im Reaktor I einem Strahlenbeschuss am Rand des Reaktorbehälters von 70 Jahren entspräche, im Block II sogar von 120 Jahren. Ministeriumssprecher Karl Franz sagte, bei der Materialforschung, wie sie derzeit betrieben werde, könne man einen viel längeren Zeitraum vorausschauen, als ein Reaktor je in Betrieb sei. „Ein weiterer Beschuss ist nicht erforderlich.“

Die Atomgegner sehen das ganz anders. Sie sagen, das AKW Neckarwestheim werde ohne einen Abgleich der rechnerischen Ermüdungsdaten mit tatsächlichen Proben „im Blindflug“ betrieben. Es müsse weiterhin eine echte Materialprüfung geben. Die sei ohne die Proben aber gar nicht mehr möglich. Die von der EnBW anvisierte Laufzeitverlängerung für Neckarwestheim sei unter diesen Umständen unverantwortlich. KLAUS WITTMANN

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