Grundsätzliche Verunsicherung

KAISERSCHNITT In Deutschland hat sich die Sectio-Rate in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt. Dabei sind nur etwa 10 Prozent dieser Eingriffe medizinisch notwendig

Wer sich vorher informiert, kann besser auf kritische Situationen reagieren

VON VERENA MÖRATH

Fast jedes dritte Kind blickt bei seiner Geburt als Erstes in eine OP-Lampe: Im Jahr 2010 wurden durchschnittlich pro Tag 572 Babys per Kaiserschnitt geboren. Bei etwa zwei Dritteln der Frauen, die einen Kaiserschnitt hatten, wird die nächste Schwangerschaft wieder durch einen Kaiserschnitt beendet. In Deutschland hat sich die Sectio-Rate in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt. Dabei sind nur etwa 10 Prozent dieser Eingriffe medizinisch notwendig, um Mutter und Kind zu schützen oder gar Leben zu retten. Ist diese medizinische Intervention heute Routine, obwohl sie eigentlich nur für Notsituationen gedacht sein sollte?

„Die meisten Frauen gehen mit dem Wunsch in die Klinik, natürlich zu gebären“, meint Silvia Höfer, seit 30 Jahren praktizierende Hebamme in Berlin. Frauengesundheit Berlin. Dass die Kaiserschnittrate dennoch so hoch liegt, habe verschiedene Ursachen. Eine ist: „Der Kaiserschnitt in der Öffentlichkeit wird teils als eine planbare Lifestyle-Entscheidung kommuniziert, ohne über eventuelle negativen Folgen für Mutter und Kind aufzuklären“, meint Höfer. Auch sei schon die Schwangerenvorsorge sehr technisiert. Dies befördere ein Risikodenken.

Tatsächlich werden über den Mutterpass heute rund 72 Prozent der Schwangerschaften als Risikoschwangerschaften definiert, obwohl es sich nicht um „echte“ Risiken handelt, so Daten des AQUA-Instituts von 2010, ein unabhängiges und überparteiliches Beratungs- und Forschungsunternehmen im Gesundheitswesen, das jährlich eine Bundesauswertung der Geburtshilfe vornimmt. „Dies trägt zu einer grundsätzlichen Verunsicherung der Schwangeren bei und macht sie empfänglich für medizinische Maßnahmen, die ihrer Beruhigung dienen sollen“, meint die Frauenärztin und Psychotherapeutin sowie Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft (AKF), Maria J. Beckermann.

Aber eine ungeplante Sectio ist nicht die einzige medizinische Intervention, auf die sich Schwangere einstellen müssen. „Heute werden Geburten viel häufiger medikamentös eingeleitet als früher“, sagt Silvia Höfer und nennt Ergebnisse der Aqua-Statistik aus dem Jahre 2011: 22 Prozent aller Klinikgeburten wurden medikamentös eingeleitet. Solch ein erster Eingriff kann häufig zu einer sogenannten Interventionskaskade führt.

Ein Beispiel: Wird eine Geburt zu früh eingeleitet, braucht der Muttermund länger, um sich zu öffnen. Zur Sicherheit, werden Mutter und Kind durch die Herztonwehenschreibung (CTG) dauerüberwacht. Geht die Geburt jedoch nicht voran, wird die Fruchtblase geöffnet und gegebenenfalls ein Wehentropf angelegt. Oftmals werden die Wehen nun derart schmerzhaft und erschöpfen die Schwangere so sehr, dass die fünfte Intervention erfolgt: Die Peridualanästhesie (PDA), um Schmerzen zu lindern. Nicht selten spüren Frauen durch die PDA keinen Pressdrang und die letzte Geburtsphase verlängert sich. Dann kann es sein, dass sich die Herztöne des Kindes verschlechtern. „Das erzeugt Handlungsdruck. Je nachdem, wie weit die Geburt fortgeschritten ist, wird ein Kaiserschnitt gemacht oder die Geburt durch eine vaginale Operation beendet“, erläutert Maria Beckermann.

„Der häufigste Grund für eine Geburtseinleitung ist die Überschreitung des Geburtstermins“, erklärt Jutta Pliefke, Fachärztin für Gynäkologie in Berlin. Wichtig für Schwangere sei die Information, dass nur drei bis vier Prozent aller Babys wirklich an dem Termin, der im Mutterpass steht, zur Welt kommen. Der errechnete Termin in der 40. Schwangerschaftswoche sei keine verlässliche Größe, „man sollte eher von einem Geburtszeitraum sprechen, zwischen der 37. und der 42. Schwangerschaftswoche, in der das Kind normal zur Welt kommen kann. Wenn es keinen medizinischen Grund für eine frühzeitige Einleitung gibt, sollten Frauen sich nicht verunsichern lassen“, rät die Frauenärztin.

Empfehlenswert ist, sich verschiedene Geburtskliniken anzusehen und sich nach der Kaiserschnittrate zu erkundigen. „Wenn diese unter 25 Prozent liegt, kann man davon ausgehen, dass keine unnötigen Kaiserschnitte gemacht werden“, so Beckermann. Silvia Höfer hat gute Erfahrungen in der Praxis, wenn Frauen von Hebammen und Frauenärzten kooperativ betreut werden und sich Raum nehmen für Gespräche über eigene Vorstellungen und Wünsche für die Geburt. „Wichtig ist es, auf eine Aufklärung über Vor- und Nachteile einer Geburtseinleitung sowie über einen geplanten Kaiserschnitt zu bestehen. Wie ist der Ablauf? Worauf lasse ich mich ein?“, rät Jutta Pliefke. Je besser die Frau informiert sei, desto besser könne sie auf kritische Situationen reagieren.

„Schwangere Frauen sollten darin gestärkt werden, ihr Kind spontan zu gebären“, fordert Silvia Höfer und schöpft Hoffnung: Im Vergleich zu 2011 besagen aktuelle Statistiken, dass die Zahl der Kaiserschnitte in Deutschland wieder leicht gesunken ist. Ein Beitrag unter vielen anderen, um die Zahl der Kaiserschnitte zu verringern – so empfehlen Fachkreise – könnte eine 1:1-Betreuung während der Geburt sein. Neu ist der Trend, an Kliniken angegliederte Hebammenkreißsäle einzurichten. Hier werden Frauen von Hebammen bei der Geburt begleitet und wissen sich gleichzeitig in einem „Sicherheitsnetz“ aufgehoben.