Geister der Vergangenheit

CHINA 25 Jahre ist die Niederschlagung der Tiananmen-Proteste her. Wie begegnen sich Opfer und Täter heute?

Die Volksrepublik hat sich vom abgeschotteten Armenhaus in eine globale Wirtschaftsmacht verwandelt

VON JUTTA LIETSCH

Es gibt eine unsichtbare Linie, die ich nicht überschreiten darf. Ich weiß nicht, wo diese Linie verläuft, und genau das ist der Grund für meine Angst. Hinter dieser Linie liegen meine Familie, mein Zuhause und meine Vergangenheit.“

Ihr ganzes Erwachsenenleben lang hat Rowena Xiaoqing He sich mit dieser Angst herumschlagen müssen – einem Gefühl, das chinesische Historiker, Journalisten ebenso wie normale Bürger des Landes kennen: Es ist die Angst vor den Folgen, die es hat, wenn man zurückblickt auf die Geschichte der Demonstrationen, die in der Nacht zum 4. Juni 1989 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurden.

Der vierte Juni, in China als „liu si“ (sechs vier) bekannt, gehört zu den großen Einschnitten in der jüngeren chinesischen Geschichte. Die Kommunistische Partei und ihre Machthaber um den alten KP-Führer Deng Xiaoping sahen ihre Macht so sehr bedroht, dass sie Panzer gegen unbewaffnete Demonstranten rollen ließen. Die hatten – nicht nur auf dem Tiananmenplatz im Herzen Pekings, sondern auch in Dutzenden Städten des ganzen Landes – ein Ende von Korruption und staatlicher Brutalität gefordert.

In ihrem jetzt in englischer Sprache erschienenen Buch „Tiananmen Exiles“ beschreibt die Autorin He, wie sie selbst und einige der damaligen Studentenführer heute im Exil versuchen, die Erinnerung an das Geschehen jener Stunden und Tage wachzuhalten – mit ihren Forschungen und Vorträgen über die jüngere Geschichte Chinas ebenso wie mit der Arbeit in Dissidenten- und Menschenrechtsorganisationen.

He hatte 1989 als Schülerin in Südchina erlebt, wie die Demonstranten von einem Tag zum anderen als „Konterrevolutionäre“ verdammt wurden – und sie selbst in diesen Chor einfiel. Heute unterrichtet sie als Dozentin mit kanadischem Pass an der Harvard-Universität in Boston.

Im Rückblick auf ihre eigenen Erfahrungen und in Gesprächen mit drei damals prominenten Studentenführern, die mittlerweile in Taiwan und in den USA leben – Wang Dan, Shen Tong und Yi Danxuan – zeigt sie, wie hoch der Preis ist, den die Aktivisten bis heute zahlen: Die Rückkehr nach Hause, zur Familie, ist den meisten von ihnen verwehrt. Die jungen Studenten, die einst als Helden der demokratischen Bewegung oder Opfer der Repression im Ausland empfangen wurden, gelten nun in den Augen vieler als „Verlierer oder Verräter“. Im Internet werden sie von Chinesen als Chinafeinde beschimpft.

Denn die Volksrepublik hat sich in den letzten 25 Jahren vom abgeschotteten Armenhaus in eine globale Wirtschaftsmacht verwandelt. Diejenigen aber, die die Proteste niederwalzten, sehen sich als Sieger der Geschichte. Dafür bemühen sich die Erben Deng Xiaopings, der damals den Schießbefehl gab, mit aller Macht, die Ereignisse jener Zeit aus dem Gedächtnis zu streichen – und einen Zustand kollektiven Erinnerungsschwundes zu erreichen.

Was heute jemand aus der jüngeren Generation in China kaum noch weiß: An dem Aufstand beteiligten sich keineswegs nur Studenten. Millionen von Bürgern riefen nach politischen Reformen. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft – bis hin zu Beamten, Polizisten, Soldaten und KP-Journalisten. Die drei Studentenführer, Wang Dan, Shen Tong und Yi Danxuan, damals gerade Anfang 20, erinnern sich an jene Zeit als eine der Hoffnung und des Glaubens an die Reformierbarkeit der Kommunistischen Partei: „Wir wollten die Regierung nicht stürzen. Wir wollten sie verbessern, sagt Wang Dan, heute Historiker und Hochschuldozent in Taiwan.

Wann immer die chinesische Regierung auf das Tiananmenmassaker angesprochen wird, reagieren ihre Sprecher mit der festgefügten Formulierung: „Das chinesische Volk hat schon lange sein korrektes historisches Urteil über die konterrevolutionären Unruhen gefällt.“ Aber wenn es so wäre, warum muss die Regierung jede Diskussion verbieten und den Tiananmenplatz so ängstlich mit Absperrungen, Überwachungskameras und Zivilpolizisten vor der eigenen Bevölkerung beschützen?

Bis jetzt, im Frühjahr 2014, werden Journalisten, Anwälte, ehemalige politische Gefangenen und Künstler festgenommen. Sie hatten es gewagt, in ihren Wohnungen oder Ateliers an jene zu erinnern, die damals erschossen wurden, im Gefängnis landeten oder seither verschollen blieben. Die anhaltende Nervosität der Behörden ist umso bemerkenswerter, als die Manipulation der Erinnerung doch ziemlich erfolgreich war. So sind diejenigen, die im inneren oder äußeren Exil landeten, in ihrer chinesischen Heimat „wie Geister oder unsichtbare Menschen“ geworden.

He: „Die meisten Menschen wissen nichts über sie, oder sie glauben den offiziellen Berichten, wonach diese Verräter um ihrer eigenen Interessen willen mit ausländischen und chinafeindlichen Kräften kollaborierten, und dass sie das Land ins Chaos gestürzt hätten, wenn sie 1989 Erfolg gehabt hätten.“

Viele in China und auch im Ausland sind heute gern bereit, an die offizielle Version der Ereignisse von 1989 zu glauben: Nur der entschlossene Eingriff der Partei und ihrer Armee habe China vor dem Zerfall gerettet und ihm das Schicksal der Sowjetunion erspart. Nur so sei der wirtschaftliche Aufstieg möglich gewesen, der die ganze Welt fasziniert.

Wer diese Version der Geschichte infrage stellt, wird gern als naiv und irregeleitet, häufiger aber auch als Verräter des Vaterlands und Nestbeschmutzer dargestellt: Sie solle aufhören, die dunklen Seiten der Vergangenheit zu enthüllen, herrschte eine chinesische Studentin die Autorin an, als sie in den USA einen Vortrag über Tiananmen hielt.

Aber He hört nicht auf. „Sie hatten die Gewehre, die Gefängnisse, den Propagandaapparat. Wir hatten nichts“, schreibt sie. So kämpft sie weiter gegen das erzwungene Schweigen, wie die vielen Chinesen, die in diesen Tagen heimlich oder – wenn sie im Ausland leben – offen jener Tage des Aufbruchs im Frühjahr 1989 gedenken. Dieses Buch hilft, die Wahrheit nicht zu vergessen.

 Rowena Xiaoqing He: „Tiananmen Exiles. Voices of the Struggle for Democracy in China“. Palgrave Macmillan, New York 2014, 212 Seiten, 21,60 Euro