Ein ungeklärtes Attentat

Nach dem Mord an Pierre Gemayel hat sich der politische Konflikt im Libanon zugespitzt. Doch es wäre voreilig, die Hintermänner des Anschlags wieder in Syrien zu vermuten

Für die antisyrische Regierungsmehrheit steht fest, dass nur Damaskus für die Tat in Frage kommt Im Libanon passen die Politbündnisse nicht in das banale Raster „Gute Demokraten und böse Islamisten“

Als der libanesische Industrieminister Pierre Gemayel am 21. November in Beirut erschossen wurde, da traf das nicht nur eine libanesische Regierung in der Krise, sondern auch eine seit dem Krieg im Sommer tief gespaltene Gesellschaft. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Drohungen treiben das Land an den Abgrund eines Bürgerkriegs. Doch unklar bleibt, wer hinter dem jüngsten Attentat steckt.

Die Folgen sind klar: Der Mord hat die politische Polarisierung im Libanon verstärkt. Erst zehn Tage zuvor waren alle fünf schiitischen Minister zurückgetreten, weil sie die Bildung einer neuen „Regierung der nationalen Einheit“ forderten. Die Minister – zwei von der Hisbollah und drei der Amal-Bewegung – sahen sich durch die antisyrische Regierungsmehrheit in die Enge getrieben. Sie verlangten, die Partei des mit ihnen verbündeten, christlichen Exgenerals Michel Aoun ins Kabinett von Fuad Siniora aufzunehmen, um in Zukunft über ein Drittel der Minister und damit eine Sperrminorität zu verfügen.

Der Konflikt schwelt seit dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Über 20.000 Wohnungen in den vorwiegend von Schiiten bewohnten Gegenden des Landes und in Südbeirut wurden zerstört, der Wiederaufbau dürfte drei bis fünf Jahre dauern. In den übrigen Gegenden des Landes hingegen ist kaum noch etwas vom Krieg zu sehen. Ebenso disparat fällt die Bewertung des Kriegs aus: Unter den Schiiten, die rund ein Drittel der Bevölkerung stellen, ist die Zustimmung zur Hisbollah noch gewachsen. Ihre sunnitischen und christlichen Gegner dagegen wünschen die Entwaffnung und Entmachtung der Partei. Die konfessionalistischen Ressentiments blühen wieder auf.

Doch nicht nur die Muslime sind gespalten, auch die Christen des Libanon teilen sich in zwei politische Lager: Zahlreiche Politiker wie die Gemayel-Familie und Samir Geagea gehören der „antisyrischen“ Regierungsmehrheit an. Sie werfen Exgeneral Michel Aoun, der 1990 noch einen „Befreiungskrieg“ gegen Syrien geführt hatte, heute sein Bündnis mit der Hisbollah und seine versöhnlichen Töne gegenüber Damaskus als „Verrat an der christlichen Sache“ vor. Er wird dabei mit dem christlichen libanesischen Präsident Emil Lahud in einen Topf geworfen, der verdächtigt wird, gemeinsam mit Syrien für den Mord an Ministerpräsident Hariri verantwortlich zu sein.

Wegen der mutmaßlichen Beteiligung am Hariri-Mord hatte Syrien seine Armee nach massiven Protesten und aufgrund internationalen Drucks im Mai 2005 aus dem Libanon abziehen müssen. Die Isolation des Regimes schien aber in den letzten Tagen aufzubrechen. In Großbritannien und den USA wurden Stimmen lauter, die Syrien und den Iran in die Suche nach einer politischen Lösung für den Irak einbeziehen wollen. Für Syrien bot dies die ideale Gelegenheit, sein negatives Image aufzupolieren. Doch nun dürfte sich diese Option vorerst erledigt haben.

Für die antisyrische Regierungsmehrheit stand schnell fest, dass Damaskus und seine Verbündete im Libanon für den Mord verantwortlich seien. Die Hisbollah und Michel Aoun, so die Argumentation, wollten die libanesische Regierung stürzen und damit die Aufklärung des Hariri-Mordes verhindern.

Gleichwohl weisen die Umstände des Mordes an Pierre Gemayel einige Ungereimtheiten auf. Denn Gemayel wusste um seine Gefährdung und hatte seine Familie eine Woche zuvor außer Landes geschickt. Doch dann hatte er an diesem Tag ausnahmsweise auf Personenschutz verzichtet. Wer wusste hiervon? Er wurde an helllichtem Tage auf offener Straße ermordet, nicht wie bei anderen Attentaten durch eine ferngesteuerte Autobombe aus sicherer Distanz. Dies spricht dafür, dass der Täter aus dem ihm nahestehenden Umfeld stammen könnte.

Solange kein Täter feststeht, muss man sich mit Motivforschung begnügen. Dabei lohnt es sich zu fragen, nicht nur wem der Anschlag genützt, sondern auch wem er geschadet hat. Die libanesische Regierung hatte bereits vergangene Woche der Einsetzung des internationalen Tribunals zur Aufklärung des Hariri-Mordes durch die UNO zugestimmt. Der Mord kam hier zu spät, um dies noch zu verhindern. Am Samstag, den 24. 11. stimmte das Kabinett erneut der Einsetzung des internationalen Tribunals zu. Die Mörder von Gemayel konnten damit rechnen, dass der neuerliche Mord die Aufmerksamkeit wieder auf das syrische Regime lenken und die Forderung nach einer Internationalisierung der Untersuchung verstärken würde.

Geschadet hat der Mord dagegen der Hisbollah, die ihre mächtigste Trumpfkarte, die Mobilisierung ihrer Anhänger auf der Straße, vorerst verloren hat. Sie musste eine für den 23. z11. geplante Großkundgebung gegen die Regierung aus Pietät absagen. Stattdessen fand an diesem Tag die Trauerprozession für Gemayel als eine Demonstration des Regierungslagers gegen Syrien, Hisbollah und Michel Aoun statt. Dabei hat das Bündnis von Aoun und Hisbollah eine durchaus große Anhängerschaft in der Bevölkerung. Die überwiegende Mehrheit der Schiiten, aber auch viele Christen, Linke, Intellektuelle und Nationalisten sehen in dieser Koalition derzeit eine nationallibanesische Kraft. Das aktuelle Regierungsbündnis aus Saad Hariri, Fuad Siniora, Walid Jumblatt und Samir Geagea ist dagegen als proamerikanisch und korrupt verschrien.

Die Hisbollah und ihre Verbündeten haben kein Interesse am Kollaps des libanesischen Staates, dessen Stärkung gerade zu ihren Hauptforderung gehört. Ein geschwächter oder gar zerfallender Staat würde den Interessen der von den Kriegsschäden am stärksten getroffenen Schiiten widersprechen, da sie staatliche Hilfe zum Wiederaufbau benötigen. Das Gefühl, die größten Opfer gebracht zu haben und nun auch noch von der politischen Macht ausgeschlossen zu werden, spitzt die Lage zu. Der Mord nützt somit all jenen Kräften, die Michel Aoun, die Hisbollah, aber auch Syrien und den Iran weiter isolieren wollen.

Die Pfade politischer Bündnisse und Interessen sind im Nahen Osten oft verschlungen. Sie passen im Libanon auch nicht in das banale Raster von „guten“, prowestlichen und idealerweise christlichen Demokraten auf der einen, und der „Achse des Bösen“ eines islamistischen Terrorismus auf der anderen Seite.

So wird in Beirut derzeit auch der christliche Exmilizionär Samir Geagea, der dem antisyrischen Regierungslager zugerechnet wird, als Verdächtiger gehandelt. Er war bereits früher in Morde an Politikern und christlichen Konkurrenten verwickelt und erst letztes Jahr aus dem Gefängnis entlassen worden. Ihm wird auch ein Bombenanschlag auf eine Kirche im Februar 1994 angelastet, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen. Damals hieß es zunächst, die Hisbollah habe das Attentat verübt. Aber es verdichtete sich der Verdacht, dass Geagea die Bombe legen ließ, um den Anschlag seinen Gegnern in die Schuhe schieben zu können. Es ist dieses Muster, das auch heute wieder den Verdacht auf ihn lenkt. STEPHAN ROSINY