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Der einäugige Heilige

Das Leben und Wirken des heiligen Zenzel. Eine wahrhaftige Wundergeschichte

Der hl. Zenzel lebte mit zwölf Frischlingen zusammen wie Jesus mit seinen Jüngern

Karawanen von Reisebussen, die die Straßen verstopfen wie die Ohren der Gottesfürchtigen vor den Einflüsterungen Satans. Gläubige Menschen, die auf frommen Knien vom Parkplatz zur Kirche rutschen. Christliche Männer und Frauen, die mit singenden Lippen das Grab des Heiligen umrunden und die unter Plexiglas eingeschlossenen Reliquien betrachten: das Auge, das der heilige Zenzel beim Versuch, den Teufel mit einem spitzen Stock zu vertreiben, sich selber ausstach, was ihn zum Patron der Einäugigen machte; daneben die Handschuhe, die der geheiligte Einsiedler trug, um die Wundmale Jesu, die er nach eigenem Bekunden trug, demütig vor den spitzen Blicken einer Welt voller Zweifler zu verbergen.

Der heilige Zenzel dürfte einer der populärsten Heiligen sein, die das 20. Jahrhundert auf bayerischem Boden hervorbrachte. Als, wie erinnerlich, Papst Johannes Paul II. ihn im Jahr 2003 kanonisierte, tanzten von Passau bis Aschaffenburg die Katholiken auf den Gebetsbänken, in den Pfarreien wurde Freiwein ausgeschenkt. Zenzel, ein später Nachfahre Franz von Assisis, predigte den Bäumen und segnete die Steine. Er erweckte Schlafende, heilte gute Laune durch Beten und Büßen und brachte Schnupfen nach sieben Tagen zum Verschwinden; Wunden, auf die er seine Hand legte, schlossen sich mit der Zeit.

1904 wurde Vinzenz-Maria Haxenmeier als jüngstes von 43 Kindern eines niederbayerischen Kleinbauern in St. Öding geboren. In der Schwangerschaft hatte die Mutter von einem Biber geträumt, der mit einer Gabel in einer Suppe rührt; diese Prophezeiung sollte sich bewahrheiten, denn in der christlichen Ikonografie meint der Biber den christlichen Walderemiten, die Gabel steht für das Kreuz, und die Suppe, das ist die Welt.

In der Tat spielt schon der Bub mit den hunderten Nachbarskindern am liebsten Einsiedler. Mit fünf zeigt er erstmals seine prophetische Gabe: Er sieht einen großen schwarzen Vogel über das Dach des elterlichen Hofes fliegen, keine zwei Monate später scheitert im fernen Berlin Reichskanzler von Bethmann-Hollweg mit seiner Finanzreform. Im Mai 1914 träumt er von einem Fuchs, der eine Gans stiehlt – alle, denen er davon erzählt, winken ab, aber noch im selben Jahr bricht der Erste Weltkrieg aus. Viele der Skeptiker sollten nicht heimkehren.

Mit 16 schließt sich Zenzel dem Orden der Unbehosten Brüder im nahen Höllenbach an, doch schon nach der ersten Vesper werfen die Brüder den jungen Novizen hinaus. In Lumpen gekleidet, die nur vom Schweiß zusammengehalten werden, mit zerrissenen Haaren, die bloßen Füße zerzaust, zieht Zenzel fortan als „Vagabund Gottes“ umher, schläft in Waschkesseln und Fuchsbauten, nährt sich von Apfelbutzen, Eierschalen und Mäuseknochen, die ihm die Katzen übrig lassen; vom Beten bilden sich Geschwüre an seinen Knien, die wie kleine Semmelknödel aussehen, aber nicht essbar sind. Zeitweise wohnen in seinen Achselhöhlen Fledermäuse.

Endlich, im Ödinger Wald seiner Heimat, weist Zenzel ein Licht, das am hellen Tag aus einem gelben Loch am Himmel scheint, den Weg. Eine kleine Senke im Waldboden macht er zu seinem Zuhause, später lebt er hier mit zwölf Frischlingen, denen Wilderer die Bache weggeschossen haben, zusammen wie Jesus mit seinen Jüngern.

In der Einsamkeit verfällt er in Visionen von der heiligen Jungfrau. Ähnlich wie Katharina von Siena oder Therese von Ávila – nur als Mann eben anders rum – sieht er, statt Jesus, Maria an seiner Seite, und immer wieder scheint es ihm, „ich stünde in ihr, ja, ich sei ganz versenkt in sie“, wie er zweimal wöchentlich seinem Herrgott beichtet. Als er über fünfzig ist, wachsen ihm auch Brüste, doch ist er zu alt, um noch Kinder zu gebären.

Nach und nach spricht sich unter den Holzköhlern, Baumkochern und Schlammsiedern herum, dass in ihrem Wald ein Heiliger lebt, dann hören Menschen davon, und die ersten Pilger kommen, um sich einen Fetzen von Zenzels Gewand abzureißen oder einen Batzen feuchte Erde aus seiner Wohnkuhle in die Tasche zu stecken. Bald muss Zenzel, um sich ihnen zu entziehen, auf immer höhere Bäume steigen, zeitweise wohnt er in einer Astgabel. 1973 stirbt er dort, ohne dass es die Wallfahrer merken. Erst 1982 wird ein Jünger, der seit fünf Jahren einen benachbarten Baum besiedelt, stutzig und entdeckt, dass Zenzel längst das Angesicht Gottes im Himmel schaut, der dort seinerseits das Angesicht Zenzels schaut.

Viele Wundertaten werden vom heiligen Zenzel erzählt, und jedes Jahr werden es mehr. Er konnte Engel sehen, wo niemand sonst Engel sah. Er prophezeite, dass die Kontinente sich eines Tages senkrecht aufrichten würden, und bis heute ist diese Vorhersage nicht widerlegt worden. Einmal ging er wie Moses trockenen Fußes durch ein Flussbett, das versandet war. Sein Ruhm wächst und wächst, und fragt man Kinder in St. Öding, was sie einmal werden wollen, so sagen sie: „Einer wie der heilige Zenzel“! Wenigstens gibt es heute nicht mehr viele Kinder.

PETER KÖHLER

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