Die Perspektive stimmt

VORAUSEILENDER JAHRESRÜCKBLICK Wieso Bremen 2011 ein ganz eigenes Superwahljahr erlebt, wie sich die Karriere von Affenforscher Andreas Kreiter entwickelt und was der Senat gegen Terror und Parkplatznöte unterimmt – die taz bremen weiß das zuverlässig schon heute

Nach 30-stündiger Verhandlung erreicht Jens Böhrnsen die Freigabe der Geisel

von TERESA HAVLICEK, ARMIN SIMON, BENNO SCHIRRMEISTER
UND KLAUS WOLSCHNER

26. Januar. Die Bürgerschaft (Landtag) beschließt mehrheitlich eine Komplett-Sperrung der Obernstraße für Atomtransporte. In einer bewegenden Rede erteilt Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) zugleich „auch perspektivisch allen Überlegungen, den Brilltunnel als alternativen Endlagerstandort zu erkunden“ eine deutliche Absage. „Wir“, so Böhrnsen, „lassen uns nicht zum Ausputzer der Atomindustrie machen!“

30. Januar. Beim Linksparteitag steht die Wahlliste für die Bürgerschaft auf dem Programm. Doch zur Abstimmung kommt es nicht: Ergebnislos endet zunächst eine dreistündige Debatte über den Geschäftsordnungsantrag anlässlich des Holocaust-Gedenktages eine Schweigeminute abzuhalten, weil Kritiker um Arn Strohmeyer befürchten, dass diese „geradezu zwangsläufig“ als „deplatzierte Solidaritätsbekundung mit der imperialistischen Politik des zionistischen Staates“ gedeutet würde. Als ein Witzbold daraufhin den Antrag stellt, den Parteitag auf den 29. Mai zu vertagen, bricht eine wüste Prügelei los. Diese überleben mit Klaus-Rainer Rupp, Peter Erlanson und Inga Nitz drei der anwesenden fünf Bürgerschaftsabgeordneten schwer verletzt.

15. Februar. Das Oberverwaltungsgericht entscheidet in der Affenfrage: Andreas Kreiter darf weiter machen. „Forschungsfreiheit ist nur dann Freiheit“, heißt es im Tenor, „wenn sie ihre ethischen Maßstäbe frei wählt.“ Zugleich wird Kreiter zur Auflage gemacht, „perspektivisch die Sicherungsvorkehrungen der Gehege zu reduzieren“, damit den Tieren theoretisch die Option auf Freiheit im Sinne der Wildbahn offen stehe.

23. Februar. Nach einer Schweigeminute für die Opfer des Linksparteitags wird die Antwort auf eine kleine Anfrage der komplett abwesenden Fraktion verlesen: Dabei offenbart Wirtschaftssenator Martin Günthner (SPD), dass jährlich 2,34 Millionen Euro des Innovationsprogramms 2020 wöchentliche Atomtransporte über Bremer Häfen fördern. Per Tischvorlage bringen Grüne und SPD schließlich den Entschließungsantrag „Atomtransporte perspektivisch reduzieren“ ein, den das Plenum einstimmig annimmt.

18. März. Wikileaks enthüllt eine US-Depesche über den letztjährigen Interims-Bundespräsident Böhrnsen. Dieser habe einen „ausgesprochen schlaffen Händedruck“, heißt es darin. Ferner habe sich Böhrnsen im Vier-Augen-Gespräch mit einem Service-Angestellten der US-Botschaft verpflichtet „perspektivisch aktive Unterstützung für den Anti-Terror-Kampf“ zu leisten. Die CDU verlangt nach „handfesten“ Taten.

12. April. Bei der Senats-PK verkünden Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) und Bürgermeister Böhrnsen, dass die Osterwiese wegen Terrorverdachts abgesagt werden muss. „Wir bedauern dies zutiefst“, so Böhrnsen. Die CDU rügt das „Wahlkampfgeklingel“.

18. April. Unübersehbar hat die heiße Wahlkampfphase begonnen. Dabei fallen besonders Werbe-Flyer in CDU-Design auf, die Junge Union-Mitglieder am Schüsselkorb verteilen: „Von Otto gelinkt?“ steht darauf, „Anwalt Thommy sieht nach dem Rechten!“ Opfern von Internetversandhäusern verspricht dort Thomas Röwekamp, Fachanwalt für Versicherungs- und Steuerrecht Rat und Tat.

14. Mai. Mit einer 0:1-Heimniederlage gegen Kaiserslautern beendet Werder die Saison als Absteiger. Noch am Abend verkünden Klaus Allofs und Thomas Schaaf personelle Konsequenzen: Allofs wird Cheftrainer, Schaaf übernimmt die Geschäftsführung. „Durch das Prinzip Bestand durch Wandel“, so Allofs, „kreieren wir uns ein neues Ziel.“ Zwar könne er die Enttäuschung nach erfolgreichen Jahren verstehen. „Aber die richtige Perspektive ist: Wir haben seit Jahrzehnten erstmals die Chance, aufzusteigen.“

22. Mai. Trotz neuem Wahlrecht verkündet Landeswahlleiter Jürgen Wayand schon um 18.05 Uhr „einen ersten Blitz-Trend“. „Mit aller gebotenen Vorsicht sieht es nach einem Erdrutschsieg für die CDU-Liste aus, die von Bernd Artin-Wessels angeführten Patrioten rangieren im zweistelligen Bereich, die SPD knapp darunter.“ Bitter für die Grünen: Sie bleiben wohl unter fünf Prozent.„Die Linke sehen wir bei 5,1 Prozent“, so Wayand. Während eine glückstrahlende Rita Mohr-Lüllmann in Fernsehkameras lächelt, trifft um 19.05 Uhr die nächste Hochrechnung ein: Wessels Patrioten liegen bei 35 Pozent, SPD ist auf 20,1 abgesackt, aber etwas stärker als die CDU mit glatten 20, „die Grünen fahren mit 14 Prozent ein respektables Ergebnis ein, Die Linke sehen wir momentan bei 5,1 Prozent der Stimmen“, so Wayand. „Doch ist auch dieses Ergebnis noch mit Vorsicht zu genießen“, warnt er. Artin-Wessels schert das nicht: Er nennt sich noch in den heute-Nachrichten „den Patrioten und Anpacker, den diese Stadt braucht“. Als um 22 Uhr die nächste Hochrechnung eintrifft, stehen die Grünen wie die SPD bei 21 Prozent, die CDU soll 13 und Artin-Wessels Patriotenliste 12 Prozent erzielt haben. „Die Linke stabilisiert sich bei 5,1 Prozent“, so Wayand. „Festlegen kann ich mich in einer Sache: Der FDP ist der erneute Sprung über die Fünfprozenthürde misslungen.“

23. Mai. Montag nach der Wahl: Unter der Headline „Bremens DÜMMSTER Wähler“ zeigt Bild ein Foto des einzigen Stimmzettels pro FDP. Er ist ungültig, weil er sechs Personen-Kreuzchen bei Spitzenkandidat Möllenstädt aufweist. Möllenstädt wehrt sich: „Ich bin doch längst nicht der dümmste! Die anderen Fredies waren doch sogar zu blöd, unsere Liste zu finden!“

27. Mai. Mäurer und Wayand geben in einer gemeinsamen Pressekonferenz bekannt, dass die Bürgerschaftswahl ungültig war. „Bei der Prüfung der Listen wurde übersehen, dass Patriot Bernd Artin-Wessels in Stuhr gemeldet ist und Steuern zahlt“, so Wayand. „Damit hat er hier in Bremen weder aktives noch passives Wahlrecht.“ Als Neuwahltermin wird der letzte Sonntag vor den Sommerferien festgelegt. Die CDU gibt bekannt, mit Thomas Röwekamp anzutreten.

1. Juni. Jens Eckhoff tritt mit der „Bürgerliste Opfer Röwekamps“ (BOR) an die Öffentlichkeit: Er habe lange mit sich gerungen, erklärt er, aber „Anwälte, die Kleinsparer und Jugendliche scharenweise in aussichtslose und kostspielige Prozesse gegen Großunternehmen drängen können auch politisch nicht deren Interessensvertreter sein.“

16. Juni. Bizets Oper „Carmen“ feiert Premiere an der Waterfront: Veranstalter ist der Weser-Kurier, Intendant und Regisseur Hans-Joachim Frey, es treten „Superstars des Bolschoi-Theaters“ auf. Dennoch verirren sich nur zwölf zahlende BesucherInnen in die acht Aufführungen. Chefredakteur Lars Haider nimmt seinen Hut und wird mit Wirkung vom 1. Juli Sprecher von Freys in Gründung befindlicher „Moskau-Event-Agentur Berlin“.

9. Juli. Das amtliche Endergebnis der Bürgerschaftswahl vom 3. Juli: SPD 28,01 Grüne 28, BOR 13,5 CDU 5,5 und Die Linke 5,4 Prozent. Matthias Güldner (Grüne) wird neuer Innensenator.

13. August. Alarm im Affenlabor! – Doch als Polizei und Feuerwehr auf dem Uni-Gelände eintreffen, sind die Gehege leer. Im Laufe des Tages werden Makaken-Sichtungen aus der City gemeldet, gegen 17 Uhr erlegt Martini-Pastor Olaf Latzel per Flinte eines der Tiere, „versehentlich“, wie er beteuert, „beim Versuch die Horde aus der Kirche zu verscheuchen.“ Danach verliert sich deren Spur. Kreiter kündigt an, seine Erkenntnisse künftig als Wissenschafts-Clown zu vermitteln.

1. September: Das World Trade Center Bremen wird gesprengt. Bausenator Reinhard Loske (Grüne) weist alle Vorwürfe zurück: „Diese Sprengung war eine Entscheidung des gesamten Kollegialorgans Senat“, es handele sich dabei um eine „noch vor den Wahlen geplante Präventiv-Maßnahme“. Tatsächlich ist der Beschluss „perspektivisch dem Terror die Angriffsfläche entziehen“ federführend von der Senatskanzlei ausgearbeitet worden.

13. September. Während eines vor-Ort-Termins bei den Schuttberäumungsmaßnahmen stellt der Senat fest, dass die Druckwelle der Sprengung auch die Pfeiler der benachbarten Hochstraße in Mitleidenschaft gezogen hat. Das Amt für Straßen und Verkehr verfügt die sofortige Sperrung. Die Handelskammer verabschiedet eine Resolution „Stadtautobahn perspektivisch erhalten“.

15. September. Über Nacht haben Bagger beim Schutträumen ein Teilstück der Hochstraße abgerissen – aus „Sicherheitsgründen“, wie Loske sagt. Er regt „zur Erarbeitung einer weiteren Perspektive“ die Gründung eines „Runden Tischs Stadtautobahn“ an. Der kann schon bald schon erste Ergebnisse präsentieren: Der Torso der Hochstraße vom Rembertikreisel bis zur Abrissstelle wird Parkplatz! Im Gegenzug fallen die Parkplätze im Concordia-Tunnel weg. Die Handelskammer lobt den „vierspurigen Kompromiss“, der Bremen „auf die Überholspur der Schnellstraße in die Zukunft“ bringe. „Die Perspektive stimmt“.

30. September. Die CDU-Parteizeitschrift ausguck bringt ein Exklusiv-Interview mit Röwekamp. Der räumt ein, dass das Wahlergebnis auch mit seinen Geschäften zu tun haben könnte: „Den Wählern ist die Trennung zwischen dem Politiker Röwekamp und ihrem kämpferischen Anwalt nicht gelungen“, rügt er. Er werde deshalb künftig weniger aufs Kleingeldsammeln setzen: „Ich werde Bundestagsabgeordneter anstelle von Bernd Neumann. Da gibt es richtig Geld.“

11. Oktober. Der Freimarkt wird abgesagt. „Uns liegen konkrete Hinweise auf eine Bedrohung vor“, so Innensenator Matthias Güldner (Grüne). Es gebe „keinen Zweifel, dass der Freimarkt ein Ziel des Terrorismus ist“, zitiert er ein „Dossier des CIA“.

13. Oktober. taz Bremen enthüllt: Beim CIA-Dossier handelte es sich um die Gedenkansprache von Geheimdienstchef Leon E. Panetta zum 11. September – und einen dusseligen Übersetzungsfehler: Im Manuskript steht, dass „there’s no doubt that the free-market is targeted by terrorism“.

14. Oktober. Senator Güldner verteidigt seine Auslegung der Panetta-Rede im Weser-Kurier als „mögliche Deutung“.

25. November. Güldner gibt bekannt, dass der Weihnachtsmarkt stattfinden darf. „Es ist nicht so, dass wir aus unseren Fehlern nichts lernen würden.“ Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng: So ist Bratwurstkonsum verboten, weil der Geruch die Polizeihundstaffeln, die rund um die Uhr das Gelände durchkämmen, ablenken könnte. Versehentlich wird dabei Bürgerarbeiter Oliver M. festgesetzt, der in städtischem Auftrag die nachträgliche Mülltrennung in Abfalleimern erledigt. Die Obdachlosenzeitschrift Straßenfeger enthüllt, dass es sich dabei um einen ehemaligen Bremer Politiker handelt, der noch im Frühjahr als Gruppenführer im Parlament tätig war.

22. Dezember. Aller Polizeipräsenz zum Trotz kommt es beim Schlachtezauber zu Gewalt: Zwölf Makaken stürmen die Bühne, auf der Wissenschafts-Clown Andreas Kreiter auftritt. Unter dem Johlen der Menge zerren sie ihn ins Pfannkuchen-Schiff, wosie sich offenbar seit August verborgen halten. Nach 30-stündiger Verhandlung erreicht Bürgermeister Böhrnsen die Freigabe der Geisel zum 24. Dezember. Im Exklusiv-Interview mit dem Fokus berichtet Kreiter, dass die Tiere ihn während der Gefangenschaft auf einen Stuhl gefesselt hatten. „Und nur wenn ich ihnen ihre Bananen geschält habe“, so das Opfer, „bekam ich zu trinken.“