Deutschlands unvollständiger Ausstieg

ATOM Für die Urananreicherung in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen gibt es noch keinen Abschalttermin – die zwei betroffenen rot-grün regierten Bundesländer wollen das auch nicht ändern

Hinter beiden Fabriken stehen internationale Atomkonzerne

FREIBURG taz | Ein bizarres Szenario droht Deutschland im Jahr 2023: Alle Atomkraftwerke sollen dann vom Netz sein, das Land soll sich als erste große Industrienation von der Nuklearenergie verabschiedet haben. Aber: Das Energiewendeland Deutschland könnte dann immer noch die Reaktoren der Welt mit Brennstoff versorgen. Denn sowohl die Anlage zur Urananreicherung im westfälischen Gronau wie auch die Brennelementefabrik in Lingen im Emsland sind weiterhin in Betrieb.

Stets blieben die beiden Fabriken unter dem Radar der öffentlichen Debatte: Beim ersten Atomausstieg um die Jahrtausendwende wurden sie ebenso ausgeklammert wie im Jahr 2011, als der Atomausstieg in Deutschland nach der Fukushima-Katastrophe ein zweites Mal besiegelt wurde.

Dabei sind weder Gronau noch Lingen kleine Anlagen. Aus Gronau zum Beispiel kann die Firma Urenco jedes zehnte Atomkraftwerk der Welt mit Uran versorgen.

Hinter beiden Fabriken stehen internationale Atomkonzerne. Die Urenco gehört zu gleichen Teilen dem britischen Staatsunternehmen British Nuclear Fuels sowie der deutschen Uranit GmbH (einer RWE- und Eon-Tochter) und dem niederländischen Staatsunternehmen Ultra Centrifuge Nederland. Die Fabrik in Lingen wird von der Advanced Nuclear Fuels GmbH betrieben, einer Tochtergesellschaft der französischen Areva.

Zwar kamen die beiden Atomfabriken immer mal wieder am Rand auf die politische Tagesordnung, doch eine große öffentliche Debatte gab es nie. Selbst in den Programmen der Parteien wird das Thema bestenfalls beiläufig erwähnt. So kämpfen die Umweltverbände – vor allem jene vor Ort – bisher weitgehend alleine.

„Gronau und das Münsterland schlittern mit der Urananreicherungsanlage Gronau auf ein Atommülldesaster von ungeahntem Ausmaß zu“, warnt Willi Hesters vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen. Denn 6.000 bis 7.000 Tonnen strahlender Uranmüll fallen jährlich in Gronau an. Die Mengen sammeln sich in einem Zwischenlager auf dem Gelände der Fabrik, das immer größer wird.

Die strahlenden Abfälle stellen nicht nur ein Umwelt-, sondern auch ein Kostenrisiko dar. Und niemand weiß, welche Altlasten daraus eines Tages für die Steuerzahler resultieren werden. Einige Bundestagsabgeordnete der Linken wollten im vergangenen Jahr per Anfrage an die Bundesregierung in Erfahrung bringen, mit welchen jährlichen Kosten für die Instandhaltung, Objektsicherung und Überwachung des Lagerbestands denn zu rechnen sei. Die Antwort fiel knapp aus: „Dazu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.“

Nun liegt Gronau im rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen – aber auch das ändert wenig. Zwar haben SPD und Grüne im Jahr 2012 in ihrer Koalitionsvereinbarung erklärt, „die Urananreicherung in Gronau rechtssicher beenden“ zu wollen. Doch die Praxis ist oft komplexer als ein Satz im Koalitionsvertrag. Und so sagt ein Sprecher des zuständigen SPD-geführten Wirtschaftsministeriums heute: „Die Urananreicherungsanlage in Gronau hat eine bestandskräftige Genehmigung.“ Diese könne „nicht so einfach aus politischen Gründen zurückgezogen werden“. Es drohten sonst „Regresszahlungen für die Steuerzahler in dreistelliger Millionenhöhe“. Das Urteil der Umweltorganisation Robin Wood ist eindeutig: „NRW ist weiterhin ein sehr aktives Atomland.“

Ähnliches könnte man über Niedersachsen sagen, wo im Emsland aus dem angereicherten Uran Brennstäbe werden. Bis zu 650 Tonnen Uran pro Jahr kann die Fabrik zu Brennelementen verarbeiten, zudem liefert sie derzeit Uran-Pulver und -Tabletten an Schwesterfirmen im Ausland.

Auch hier gibt es vor Ort regelmäßig Proteste, immer wieder blockieren Demonstranten die Zufahrt. Doch die Politik blieb lange untätig. Im Koalitionsvertrag der rot-grünen niedersächsischen Landesregierung ist die Brennelementefabrik nicht einmal erwähnt. Das von einem Grünen geführte Umweltministerium bestätigt auf Anfrage, dass es keine Überlegungen zur Stilllegung gebe – man sehe schlicht „keine rechtliche Handhabe“.

AKW-Kritiker sehen im Umgang mit den beiden Atomfabriken ein Indiz für mangelnde Ernsthaftigkeit der Politik beim Thema Energiewende. Und so belastet der Fortbestand der Anlagen inzwischen auch die Endlagersuche. Zur neu konstituierten Endlagersuchkommission schrieb das Informationsnetzwerk Contratom: „Wenn in Gronau die Uranfabrik und die Brennelemente-Produktion in Lingen weiterlaufen sollen, wenn gleichzeitig noch Milliarden in weitere Atomforschungen und Subventionen gesteckt werden – dann geht es nur um weitere politische Scheinlösungen und die Täuschung der Öffentlichkeit.“ BERNWARD JANZING