berliner szenen Nachbarn und Verbrecher

Orale Inkontinenz

Frau Teuber wohnt im selben Haus wie ich. Sie hat ein Messingnamensschild und einen Fußabtreter mit Katzenbild. Jetzt steht sie vor der Haustür und guckt durch ihre dicke Brille. Ich schließe mein Fahrrad ab. Frau Teuber hält sich an ihrem Stoffbeutel fest und zieht ihre dünnen Lippen lang. „Die Mülltonnen sind wieder falsch befüllt“, sagt sie. Ich nicke und verstehe kein Wort. Die alte Frau kriegt rote Flecken am Hals: „Wieder Küchenabfälle in der gelben Tonne“, sprudelt sie los, „bestimmt von dem Verbrecher rechts oben, mit der schrecklichen Musik.“

Ich kenne den Jungen, er hat einen netten Musikgeschmack. Nur die Lautstärke ist gewöhnungsbedürftig. Früher hat sein Hund die Beschallung übernommen, wenn er nicht da war. Aber der ist letzten Sommer verreckt. Vermutlich Rattengift. Es war filmreif. Der Nachbar stand heulend auf der Straße, Blut an den Händen. Da sah er wirklich aus wie ein Verbrecher. Der Hund hatte sich einfach in seine Einzelteile aufgelöst und seine inneren Organe ins Treppenhaus gekotzt. Ich mag den Nachbar. Seinen Hund mochte ich auch.

Katzen kann ich nicht leiden. Frau Teuber hätte, glaub ich, gerne eine Katze. Siehe Fußabtreter. Sie sprudelt immer noch. Orale Inkontinenz nennt man so was: „Der Schmarotzer“, lästert sie, „zu faul zum Arbeiten.“ Ich versuche, ihr nicht zuzuhören. Erfolglos. Sie habe den Hausmülleimer wegen Leerstands abgeschafft, erzählt sie, es lag nur ein Hausschuh drin: „Den hat meine Muschi zerfressen.“ Ich huste.

Sie meint ihre Katze, meditiere ich. Wenn ich noch doller zubeiße, blutet meine Unterlippe. „Es tut mir Leid“, lüge ich, „aber ich muss zur Arbeit.“ Frau Teuber nickt und fällt in sich zusammen. Wie ein zerdrückter Tetrapak.

LEA STREISAND