Große Ernüchterung

Glaubenskrise“ und „Vertrauensverlust“ sind die guten Nachrichten, die vom alten ins neue Jahrzehnt hinüberreichen. Dank Finanzcrash, Wikileaks und katholischem Priestersex wurde das allgemeine Credo in die irdischen Ewigkeiten von Kapital, Staat und Kirche aufgelockert oder ruiniert. Was aus der Sicht dieser Dreifaltigkeit misslich erschien, bietet interessante Aussichten für den Rest. Das Jahr 2010 hat die Menge an zirkulierender Glaubwürdigkeit und öffentlichem Kredit reduziert, und die kommende Dekade wird zwar keine Verbesserung unserer ökonomischen, spirituellen oder politischen Lagen mit sich bringen, aber ein gesteigertes Misstrauen in Gewinnversprechen jeglicher Art. Wenn die Baisse von Glauben und Vertrauen Skepsis heißt und genaueres Hinsehen meint, so kann man auf eine Ernüchterung, auf eine Optimierung kritischer Welthaltungen hoffen. JOSEPH VOGL

Professor für Kulturwissenschaften in Berlin. Gerade erschien von ihm: „Das Gespenst das Kapitals“ (Diaphanes).