Wo das Sandmännchen zuschlägt

GASTSPIEL Wolfram Hölls ungewöhnliches Drama „Und dann“ ist ein Höhepunkt der Autorentheatertage im Deutschen Theater

■ Weit stößt das Deutsche Theater die Türen zu anderen Bühnen auf: Für die Autorentheatertage werden spannende neue Dramen ausgesucht. Aus Hamburg, Basel, Hannover, München, Wien und Leipzig kommen die Inszenierungen.

■ Als Autoren erstmals dabei: Thomas Luz mit „When I die“ über die Untoten der Musikgeschichte, Jakob Nolte und Michel Decar mit „Helmut Kohl läuft durch Bonn“.

■ Für die „Lange Nacht der Autoren“ am 14. Juni hat der Theaterkritiker Till Briegleb aus der 20-jährigen Geschichte des Festivals fünf Stücke ausgewählt, die eine Wiederaufführung verdienen.

Würde bei den Autorentheatertagen, die morgen beginnen, ein Preis verliehen, dürfte man den Dramatiker Wolfram Höll ganz sicher zu den Favoriten zählen. Zwar ist es müßig, darüber zu spekulieren, das Festival ist kein Wettbewerb. Doch Hölls „Und dann“ hat in den vergangenen beiden Jahren fast alle Auszeichnungen erhalten, für die ein neuer Theatertext in Betracht kommt: mit dem Hörspielpreis bedacht beim Stückemarkt des Theatertreffens in Berlin, vorgestellt beim Heidelberger Stückemarkt und bei den Mülheimer Theatertagen.

Welche Form diese stakkatohafte Nachwende-Erzählung, getippt in schmalen Schreibmaschinenspalten, auf der Bühne einnehmen könnte, ist dabei sehr offen: Assoziativ ist der Text, eine Stillstandsbeschreibung mit wenig Handlung. Regisseurin Claudia Bauer hat dann in ihrer Leipziger Inszenierung, die am Deutschen Theater am 10. Juni gastieren wird, einen Weg gefunden und den Text mit selten zu erlebender, radikaler Verfremdung gefüllt.

Kindheitsfetzen

Hölls Textpartitur umkreist Erinnerungen aus der Nachwendezeit. Kindheitsfetzen überlagern sich in verschiedenen Schichten und Bildern. Da verändert sich die lange Straße vor dem Haus von der „Panzerparadenstraße“ zur „Altwestwagenparade“. Die Wohnung im „Riesenhaus“ ist nachts vom bläulichen Licht des Fernsehers erfüllt. Alles aus kindlichem Blickwinkel erzählt, in bruchstückhafter Sprache komponiert.

Todtraurig ist aber ein weiteres Bild: das des Vaters, der Filmaufnahmen seiner abwesenden – vielleicht toten, vielleicht geflohenen – Frau auf die Plattenbaufassade gegenüber projiziert. Während eines Ausflugs macht er neue Aufnahmen der Kinder, die mit den alten verschnitten werden. Szenen, die den Verlust der Mutter, aber auch der Kindheit und der sozialen Umgebung groß und schmerzhaft machen. Da ist es nur folgerichtig, dass in Claudia Bauers Inszenierung Videoleinwände über Neubauwohnräumen hängen. Aus engen Zimmerwinkeln schleudert einem der hohläugige Vater mechanisch Satzfetzen entgegen, während die Schauspieler auf der Bühne Puppenköpfe tragen wie aus dem DDR-Kinderfernsehen, am Tisch Papierschnipselsuppe löffeln oder der Fernseher einer spukhaften Abhöranlage gleicht. Ost-Sandmännchen-Ästhetik, die spukhaft zuschlägt.

Der mechanische Ablauf des Alltagsleben, der hier in kindlicher Verzerrung nachgespielt wird, führt das Stück in einen atmosphärischen Stillstand. Albtraumhaft eng ziehen sich die Erinnerungen zusammen.

Auf der Leinwand laufen auch Auszüge aus Hölls Text, in den vieles eingeflossen ist, was zu seiner Vita gehört. Der Autor wurde 1986 in Leipzig geboren, lebte in der Kindheit einige Zeit im Plattenbau. Seine Mutter sei zwar nicht gestorben, das Stück ist auch nicht autobiografisch, heißt es von ihm. Trotzdem sind seinen eigenen Erinnerungen aus dem damaligen Mikrokosmos mit eingeflossen.

So thematisiert „Und dann“ zwar auch allgemein verständliche Verlusterfahrungen, konkret geht es aber um den Vergangenheitsraum eines untergegangenen Soziotops.

SIMONE KAEMPF

■ „Und dann“ von Wolfram Höll, 10. Juni, 20 Uhr im Deutschen Theater