Ein radikaler Pragmatiker

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez gilt als bizarrer Performer und sozialistischer Utopist. Tatsächlich ist er ein erfolgreicher Reformer, der zunehmend kopiert wird

Die Petrodollars fließen nicht mehr an der Staatskasse vorbei, Zahl der Armen sank um 11 Prozent Das sozialistische Kuba ist für Chávez nur Logistikpartner für seine Sozialmissionen

Das lateinamerikanische Superwahljahr 2006 wird als das Jahr des Hugo Chávez in die Geschichte eingehen. Der Schatten des venezolanischen Präsidenten ist in den vergangenen elf Monaten länger und länger geworden. In den meisten südamerikanischen Ländern bestimmte die Diskussion um die Verbindung des jeweiligen Linkskandidaten zu Chávez den Wahlkampf. Seit seinem UNO-Auftritt, bei dem er George W. Bush als „Teufel“ titulierte, gilt er bei uns jedoch vor allem als bizarrer Performer.

Nach seinem Wahlsieg am Sonntag ist es Zeit, sich den ganzen Chávez anzusehen. Denn der charismatische Comandante steht für eine neue politische Option auf dem Kontinent. Er hat den lateinamerikanischen Rohstoffländern vorgeführt, wie man durch ein paar entschiedene Maßnahmen Mittel für den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates freisetzt. Entgegen anders lautenden Gerüchten ist der Unterschied zwischen Chávez und Lula nämlich nicht der zwischen einem radikalen Utopisten und einem pragmatischen Reformer.

Ganz im Gegenteil: Chávez ist in vielerlei Hinsicht ein Pragmatiker. Er hat gegenüber den Erdölmultis eine härtere Gangart eingelegt und den staatlichen Ölkonzern PdVSA einer Clique von neoliberalen Managern abgeknöpft. Dass die heute den internationalen Korrespondenten ihre Klagen über den Missbrauch des Öls für soziale Zwecke in die Notizblöcke diktieren, muss niemanden verwundern. Tatsache ist: Seit Chávez fließen die Petrodollars nicht länger an den Staatskassen vorbei.

Es ist daher nur folgerichtig, dass Boliviens neuer Präsident Evo Morales fast Punkt für Punkt die Agenda abarbeitet, die Chávez seit 1999 in Venezuela verfolgt. Morales „renationalisierte“ die Gasvorkommen und ließ über eine verfassungsgebende Versammlung abstimmen. Ähnliches hat Ecuadors designierter Präsident Rafael Correa vor: Er will eine neue Verfassung durchsetzen und das Land zum Opec-Mitglied machen. „Der Markt ist ein hervorragender Diener, aber ein äußerst schlechter Herr“, hatte der 43-jährige Ökonom Correa nach seiner Wahl erklärt. Der Satz hätte von Chávez stammen können.

Wunder sind zwar nicht eingetreten in Venezuela. Doch immerhin ist die Zahl der extrem Armen um rund 11 Prozent gesunken, und die Bildungs-, Gesundheits- und Arbeitsförderprogramme erreichen etwa 70 Prozent der Bevölkerung. Der „Castro-Kommunismus“, den Chávez’ Gegner heraufziehen sehen, ist eine Schimäre. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den Hugo Chávez anstrebt, zielt auf eine Inpflichtnahme des Marktes und weniger auf die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln. Das sozialistische Kuba ist für Chávez weniger politisches Leitbild als Logistikpartner bei der Umsetzung seiner Sozial-„Missionen“. Ohne von Fidel geschickte Ärzte und Alphabetisierer wäre seine „bolivarische Revolution“ schon vor drei Jahren durch eine widerspenstige Bürokratie, mangelnde Verwaltungskompetenz und Parteienklüngel aufgerieben worden.

Zwar gehört es der Vergangenheit an, dass korrupte Politiker und Wirtschaftsmagnaten die Petrodollar-Milliarden unter sich aufteilten. Dafür schafft der hastig über die Gesellschaft ausgeschüttete Geldsegen lauter Gelegenheiten zur Korruption auf mittlerer und unterer Ebene. „Ich werde den Prozess der Machtübergabe an das Volk beschleunigen“, versprach Chávez vor der Wahl und kündigte eine „Einheitspartei“ an, in der die sehr heterogenen venezolanischen Basisbewegungen Platz finden sollen. Denn der Erfolg des Modells Chávez hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Kluft zwischen der neuen „chavistischen“ Funktionärskaste und den Armen, die seine politische Basis bilden, weiter aufreißt.

Fragen von nationaler Bedeutung wird er in den kommenden sechs Jahren Amtszeit einem Volksreferendum unterwerfen –so auch die Verfassungsänderung, die ihm die unbegrenzte Wiederwahl ermöglichen soll. Chávez ist ein Radikaler – nicht weil er antiimperialistische Reden schwingt oder einen Sozialismus verkündet, dessen Umrisse noch unscharf sind. Radikal sind die plebiszitären Elemente seiner Politik. Seine Anhänger in den Barrios sprechen vom „Parlamentarismus der Straße“. Seine Gegner aus den urbanen Eliten, die auf eine Niederlage der Chavisten gehofft hatten, brachen am vergangenen Sonntag im Oppositionswahlkampfzentrum oft in Tränen aus, als sie gewahr wurden, dass sie den volkstümlichen Diskurs des Comandante noch mindestens sechs weitere Jahre ertragen müssen.

Die Vision von der „multipolaren Welt“, die Chávez vor sich her trägt, mag ein bisschen zu großartig wirken für den Staatschef einer Mittelmacht wie Venezuela. Doch sein Faible für den Panlateinamerikanismus eines Simón Bolívar ist keine Träumerei aus dem 19. Jahrhundert. Angesichts des Aufstiegs der neuen ökonomischen Weltmächte China und Indien, die großen Ölbedarf haben und neue Märkte suchen, eröffnet sich für die lateinamerikanischen Staaten eine Alternative zur Juniorpartnerschaft mit den USA.

„Unter dem Schutzschirm der US-Niederlage im Irak und dem Auftauchen des gelben Drachens“, schreibt der deutsch-mexikanische Soziologe und Chávez-Berater Heinz Dieterich, „kann sich die Patria Grande unabhängig machen.“ Und Chávez sucht nicht allein auf Regierungsebene Partner für seine multipolare Welt. Seine Regierung bemüht sich um die Vernetzung mit Gewerkschaften, Campesino-Bewegungen und Globalisierungsgegnern. Erst vor drei Wochen kam es zu Verstimmungen mit Argentinien, nachdem sich der venezolanische Botschafter mit radikalen Piquetero-Gruppen getroffen hatte. Und das Außenministerium in Caracas hat für den Gipfel der zwölf südamerikanischen Staatschefs im bolivianischen Cochabamba an diesem Wochenende auch ein Treffen mit Vertretern der sozialen Bewegungen organisiert. Auch hierin zeigt sich, dass in Venezuela ein neues, basisdemokratischen Politikverständnis Einzug gehalten hat.

Ist Hugo Chávez ein „Ché Guevara mit Öl“ wie der Spiegel schrieb? Ist er der neue Fidel Castro? Ist er ein Populist wie Juan Perón? Ein sanfter Sozialist wie Salvador Allende? Die Vergleiche mit den großen lateinamerikanischen Volksführern hinken. Hugo Chávez ist ein Politiker sui generis. Der erste Mestize im Kreise der lateinamerikanischen Staatschefs ähnelt ein wenig Muhammad Ali. Er ist ein Medienpolitiker, ein Showman, der sich als Maulheld gebärdet, statt seinen Status als Angehöriger eines kolonisierten Volkes durch Wohlanständigkeit vergessen zu machen. „Chávez no se va!“ – „Chávez bleibt!“, skandierten hunderttausende Anhänger am vergangenen Sonntag. Auch die US-Regierung, die vor vier Jahren einen Putsch gegen ihn unterstützte, scheint mittlerweile akzeptiert zu haben, dass sie mit dem starken Mann aus Caracas leben muss. Chávez’ Wiederwahl sei eine „demokratische Entscheidung des venezolanischen Volkes“, erklärte Bushs Lateinamerika-Beauftragter Thomas Shannon am Montag.

CHRISTOPH TWICKEL