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: Türkiyemspor will’s noch mal wissen

FUSSBALL Die neue Führung des Kreuzberger Vereins sucht nach Wegen aus der Finanzkrise

Türkiyemspor taumelt in der Fußball-Regionalliga dem Abstieg entgegen. Nur zwei Zähler stehen auf dem Konto des Schlusslichts, nachdem der Verband den Kreuzbergern drei errungene Punkte wegen Verstößen im Lizenzverfahren abgezogen hat. Spieler verlassen den Verein, weil sie seit September nur noch 165 Euro pro Kopf und Monat erhalten: der Mindestlohn, um Versicherungsschutz zu genießen.

Wenigstens konnte der Verein die im Oktober drohende Insolvenz abwenden. Von damals 766.000 Euro Schulden seien „bei optimistischer Einschätzung“ 95.000 Euro übrig geblieben, erklärt Aufsichtsratsvorsitzende Sürreya Inal, die mit Gläubigern um einen Schuldenerlass feilscht. „Die laufenden Einnahmen decken die laufenden Ausgaben“, bilanziert sie den Stand.

Jetzt soll die dritte Generation den Verein, den Türken 1978 gegründet haben, aus der Krise wirtschaften. Nach zweimonatiger Führungslosigkeit übernahm Fatih Aslan den Vorstandsvorsitz. Der 28-jährige Ökonom agierte früher als Mannschaftskapitän bei Türkiyemspor. In seiner neuen Funktion hat er Studien- und Sportfreunde um sich geschart, smarte Typen um die 30, die neue Vereinsstrukturen schaffen wollen. „Bisher hatte ich das Gefühl, dass Türkiyem aus dem Bauch heraus geführt wurde. Wir werden versuchen, Erfolg messbar zu machen“, verkündet Aslan.

Das klingt merkwürdig abgeklärt in den Ohren jener Fans, die Türkiyemspor wegen seiner gelebten Emotionalität als Multikulti-Alternative zum deutschen Bezahlfußball lieben. Rauschende Feste mit Bauchtanz und Kebab im Kreuzbergstadion haben den Club populär gemacht. Nun spricht Aslans Vorstandskollege Florian Tanyildiz plötzlich von „Politik-Networking“. Ahmet Erbas, Präsident zur Hochzeit um 1990, als Türkyemspor an die Tür zur Bundesliga klopfte, vertraut den Jungen. „Sie müssen dafür sorgen, dass es mit dem Verein gesund weitergeht.“ Er gesteht: „Wir haben den Verein wie einen Lebensmittelladen geführt.“

„Es hat nie eine Transparenz bei den Finanzen gegeben“, klagt Miglied Cornelia Reinauer. Die frühere Bezirksbürgermeisterin hört oft das Synonym „Chaosverein“ für den einstigen Liebling Kreuzberg, der zwar Preise für seine soziale Integrationsarbeit einheimst, aber das Stadion fast leer gespielt hat. Aslan & Co bemühen sich um eine Geschäftsstelle als Kommunikationszentrum. Dadurch soll ein „Wir-Gefühl“ entstehen, das Aufsichtsratschefin Inal vermisst.

„Wollen wir es miteinander oder gegeneinander?“, fragt Aslan, der neue Vorsitzende. Eine Schicksalsfrage für den Club, den eine tiefe Kluft durchzieht: Hier die erste Männermannschaft, das Aushängeschild, das die meiste Finanzkraft absorbiert – dort die Jugend- und Frauenabteilung. „Wir haben 600.000 Euro Schulden angesammelt, um den Abstieg der Herren aus der Regionalliga zu vermeiden. Ist das der Anspruch?“, fragt Adnan Akbaba. Der Jugendleiter beklagt sich:. „Seit zwei Jahren haben wir kein Geld an die Trainer bezahlen können.“ Im Training führe er schon mal eine „Beitragskollekte“ unter Jugendlichen durch, um das Benzingeld für die nächste Auswärtsfahrt zusammenzubekommen. Akbaba: „Das ist nicht die Vision, die wir haben.“

Zumal Egos immer wieder zusammenprallen. Ugur Ilter, Präsident bis September, erzählt: „Bei der letzten Versammlung hat nur noch die Massenschlägerei gefehlt.“ Er hofft, dass die neue Führungscrew in Ruhe arbeiten kann: „Es bringt nichts, dem, der gerade die Fahne übernommen hat, auch noch ein Bein zu stellen, so dass er hinfällt.“

JÜRGEN SCHULZ