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Der Orient-Express

Seit drei Wochen transportiert Al Jazeera English die arabische Perspektive auf die Nachrichtenlage in alle Welt. Der Inhalt unterscheidet sich kaum vom Schwestersender, die Verpackung schon

Al Jazeera English will sich auch „brisanten Themen wie Religion und Sex“ widmen

VON KERSTIN SPECKNER

Das neue englischsprachige Programm von al-Dschasira gibt sich kritisch und weltoffen: Die Zuschauer aus West und Ost sollen vor allem Nachrichten und Informationen über die arabische Welt geliefert bekommen, die bei anderen Sendern oft aus dem Programm fallen: Historische Dokumentationen über Schätze arabischer Architektur, Gespräche mit Opfern des libyschen Geheimdienstes, ausführliche Berichte über politische Ereignisse in arabischen Ländern und regelmäßige Nachrichten aus den News-Studios des Senders von Doha bis Kuala Lumpur, aber auch aus London und Washington, D. C.

Für platten arabischen Patriotismus bleibt zunächst weiter das arabischsprachige Schwesterprogramm zuständig. Doch auch in der internationalen Version ist die proarabische Sicht der Dinge garantiert – sie ist nur ein wenig anders verpackt. Statt auf den „Wir Araber gegen den Rest der Welt“-Tonfall in Sendetiteln und Inhalten, mit dem das arabische Original in Wohnzimmern von Casablanca bis Bagdad punktet, setzt man im englischen Programm auf moderne Präsentation und dokumentierende Formate.

Zu den Sendungen, die im englischsprachigen Programm bislang fehlen, zählt etwa die Serie „Asdiqa’ al-Arab“ (Freunde der Araber), in der Menschen aus dem Westen vorgestellt werden, die jetzt in einem arabischen Land leben. In der Sendung erzählen sie, wie gut es ihnen dort gefällt und warum sie auf keinen Fall mehr wegwollen. Oder die Reihe „Palästina unter dem Mikroskop“, die sich verschiedenen Aspekten der jüngeren Geschichte Palästinas widmet, etwa der „Geschichte des bewaffneten Widerstands“ oder „Arafats letzter Reise“ in einer Doppelfolge.

Auch wenn solche Formate fehlen, ausgelassen wird das Thema Palästina bei Al Jazeera English keineswegs. Die „Fehler“ Israels und des Westens werden anders präsentiert: Etwa in der Serie „Witness“, wo Augenzeugen Moderator Rageh Omaar von ihren Lebenserfahrungen berichten. Etwa wie furchtbar es ist, als Muslim in einer westlichen Gesellschaft zu leben und den Vornamen Ussama zu tragen. Oder wie die israelische Armee Olivenbäume systematisch zerstört – und das, obwohl Olivenzweige ein „Symbol des Friedens“ sind, wie al-Dschasira anmerkt.

Unterschiedliche Akzente setzen die beiden Schwestersender schon bei der Auswahl ihrer Moderatoren: Die Mehrzahl der internationalen Sprecher ist jung, mehr oder weniger gut aussehend, erfolgreich, hat einen arabischen Hintergrund – und journalistische Erfahrungen aus dem Westen. Im arabischen Programm dominiert hingegen das traditionelle Bild von Seriosität: Die Moderatoren sind meist älter, die Herren tragen bevorzugt Bart – also zumindest einen Schnurrbart.

Dass auch gesellschaftliche Themen im arabischen Original konventioneller ausfallen, zeigt der Vergleich der Frauentalkrunden der Schwesterprogramme: „Li’l nissa’ faqat“ (Nur für Frauen) war die erste arabische Frauentalkshow und wirbt damit, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Dennoch klingen die Themen, über die Moderatorin Luna al-Schabal mit ihren Gästen spricht, vergleichsweise harmlos und sind immer mit deutlichem Bezug auf die panarabische Nation formuliert. Hier spricht man etwa über „Die arabische Frau im Arbeitsleben“ oder „Dienstmädchen in unseren arabischen Gesellschaften“.

Dass man mit einem Diskurs über die Rolle und die Probleme von Dienstmädchen außerhalb der arabischen Halbinsel nur wenige Zuschauer vor die Glotze locken kann, hat wohl auch Al Jazeera erkannt. Das englische Pendant zu „Li’l nissa’ faqat“ leitet Shahnaz Pakravan, eine ehemalige BBC-Nachrichtensprecherin. In „Everywoman“ soll die Welt – und zwar nicht nur die arabische – aus der weiblichen Perspektive gezeigt werden. Das gilt auch für „brisante Themen wie Religion und Sex“ so die Eigenwerbung des Senders: Pakravan spricht mit ihren Gästen über Empfängnisverhütung in Palästina und über den Umgang mit Vergewaltigungsopfern in Indonesien. Solche Themen seien im Nahen Osten sehr heikel, sagte sie in einem Interview.

Um neue Zuschauer außerhalb der arabischen Welt zu gewinnen, scheint der Sender solche Themen jedoch sehr geeignet zu finden: Derzeit läuft „Everywoman“ mindestens einmal täglich und wird stetig beworben in der Hoffnung auf wachsendes Publikum – immerhin sieht der Sender eine Milliarde Englisch sprechender Menschen weltweit als potenzielle Al-Jazeera-English-Zuschauer.

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