Drillpädagogik für Touristen

Das ehemalige Militärgefängnis der lettischen Ostseehafenstadt Liepãja zeugt von stalinistischer und nationalsozialistischer Brutalität. Heutige Besucher erfahren in zweistündiger Gefangenschaft die Leidensgeschichte der ehemaligen Inhaftierten

von UDO BONGARTZ

Die Schüler steigen noch gut gelaunt aus dem Reisebus, der sie durch das bizarre Gelände des Kriegshafens von Liepãja führte. Doch hier, am rostigen Tor des Militärgefängnisses, zieht der Kommandant in sowjetischer Uniform andere Saiten auf: Der Uniformierte brüllt Verhaltensregeln und gibt erste Anweisungen zum Exerzieren. Die Schüler, nun Häftlinge, lernen erste Lektionen über die Geschichte des düsteren Ziegelbaus, vor dem sie nun in Zweierreihe postiert stehen. Die Fenster sind vermauert. Es gibt nur Spalten aus Glasbausteinen. Der Kommandant beschreibt, wie es begann. Der historistisch verzierte Bau war als Teil einer Klinik geplant. Doch im Juni 1905 brauchten die zaristischen Militärs viele Haftzellen.

Fauliges Fleisch mit wimmelnden Maden empörte in diesem Sommer nicht nur die Mannschaft des Panzerkreuzers „Potemkin“. Auch in Liepãjas Kriegshafen ließen sich die Matrosen mit derartigem Gammelfleisch nicht mehr abspeisen. Doch der bewaffnete Aufstand scheiterte, es gab 2 Tote und 8 Verletzte. Den Überlebenden drohte das Kriegsgericht. Es verhängte Todes- und Haftstrafen. Für die 137 Gefangenen reichten die Zellen nicht. Man sperrte sie in den noch unbelegten Neubau, der fortan Gefangene statt Kranke beherbergen sollte.

Seit Januar 1905 prägten Unruhen und Generalstreiks die Industriestadt. Als Soldaten zum Krieg gegen Japan eingezogen wurden, protestierte die Bevölkerung. Am Bahnhof gab es elf Tote und 24 Verletzte. Aber die Revolutionäre hatten auch Erfolg: Sie befreiten im Oktober 13 Häftlinge aus dem hiesigen Bau. Und das Militär zeigte Gnade: Die Todesurteile wurden in Haftstrafen verwandelt. Diese Ereignisse stehen am Beginn eines Jahrhunderts der Schreckensherrschaft, die Lettland in besonderem Maß geprägt hat.

Vom hellen Tageslicht marschiert die Gruppe an einem Lenin-Bild vorbei in den ersten Stock. Die Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Ein paar bleiche Glasfunzeln an der hohen Decke beleuchten nur allmählich einen langen Gang mit schwarz lackierten Wänden. Der Kommandant und sein Personal lehren nun das korrekte Parieren. Ein Aufseher prüft, ob sich die Gefangenen korrekt mit beiden Händen an der Wand aufstellen. Er befragt einen Touristen, wo er herkomme. „Deutschland“ meldet er gehorsamst und bekennt auf Nachfrage: „aus Westdeutschland“. „Ha, Faschist“, lautet die höhnische Reaktion. Da er zu breitbeinig steht, bekommt er noch einen Tritt ins Schuhwerk dazu. Das Personal befiehlt Einzelnen aus der Menge, hinter diversen Metalltüren zu verschwinden. Der Kommandant stellt in seinem finsteren Büro die Personalien fest. Dann drückt er grinsend Stempel in die Gefangenenausweise. Die westdeutschen Touristen werden zur Sonderbehandlung abgeführt. Sie landen in der Dunkelkammer. Eine Kerze am Boden gibt ein wenig Orientierung. Die Umrisse eines weiteren Wächters werden sichtbar. Sein Ton ist milder, er spielt den Sanftmütigen.

Die ehemaligen Insassen mussten in diesem Schwarz ohne Kerze vegetieren. Nur zum Frühstück sahen sie für eine Weile das Tageslicht. Einige sind hier verrückt geworden. Der Wächter will auf Englisch wissen, wann die schlimmsten Taten in diesem Gebäude begangen wurden. Die Befragten stammeln irgendetwas von stalinistischen Gräueln.

„Falsch“, widerspricht die dunkle Gestalt: „Am schlimmsten wütete der Sicherheitsdienst der Nazis.“ Sie erschossen während der deutschen Besatzung zirka 160 Regimegegner, darunter auch lettische Deserteure, die sich weigerten, gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Die SS hatte ab 1942 eine lettische Legion aufgestellt. Am Anfang fanden die deutschen Besatzer Freiwillige, die ihrer Befreiungspropaganda Glauben schenkten und Lettland gegen die Sowjetunion verteidigen wollten. Doch als die Letten die eigentlichen Ziele der Nazis erkannten, wurden sie zwangsrekrutiert.

Als die Deutschen 1941 die Stadt eroberten, machten sie aus der Region Liepãja einen Schlachthof, in dem sie Juden, Sintis, Kommunisten und lettische Geiseln mit bestialischer Effizienz ermordeten. Im Raina-Park, in der Festung Skede und anderen Stätten bezeugen Massengräber den Ausrottungswahn. Die Nazis ließen in Skede einen 100 Meter langen Graben ausheben, reihten ihre Opfer am Rand entlang. Je zwei Soldaten schossen auf ein Kind, eine Frau oder einen Mann. Bei Müttern mit Säuglingen war eine Kugel für die Frau, die andere für das Baby vorgesehen. Von den zirka 7.600 Juden wurden bereits 1941 mehr als 5.000 erschossen.

Schließlich kamen die stalinistischen Besatzer zurück. Krieg und Holocaust waren vorbei, doch die Willkürjustiz blieb. Die Innenarchitektur wurde noch makabrer: Die Rotarmisten lackierten die Wände schwarz und vermauerten die Fenster. Todesurteile wurden hier nicht mehr vollstreckt, blieben aber der Schrecken für politische Gefangene, auch nach Stalins Tod. Offenbar hatte die menschenverachtende Architektur für die Militärs einen Gewöhnungseffekt. Die Armee des demokratischen Lettland hielt hier noch bis 1997 Delinquenten.

Im helleren Entlassungsraum ist ein Büfett angerichtet. Die Stimmung wird lockerer. Die Küche des Hauses tischt alles auf, was sie zu bieten hat: Essiggurken, Heringe in Tomatensoße, Roggenbrot und schwarzen Tee. Die Schüler und Touristen werden diesen Aufenthalt in Erinnerung behalten, ob sie wollen oder nicht: Zu Hause werden sie Post bekommen mit Haftnachweis und Häftlingsfoto.