: Kakerlaken erzählen anders als Pferde
TRAUMA Mit indianischen Mythen auf den Spuren des libanesischen Bürgerkriegs: In „Anima“ zeigt der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad den Menschen als Tier unter Tieren
Es beginnt wie in einem herkömmlichem Spannungsroman, mit einem Gewaltverbrechen. Eine Frau wird in ihrer Montrealer Wohnung von ihrem Mann tot aufgefunden: ermordet und sehr scheußlich zugerichtet. Was an dieser ersten Szene jedoch besonders irritiert, ist nicht die Schilderung der grausamen Einzelheiten – die kennt der heutige Spannungsroman zur Genüge –, sondern die außergewöhnliche Perspektive. Dieser Roman lässt sehr konsequent weder Figurensicht noch eine auktoriale Erzählposition zu. Die erzählenden Instanzen sind andere, externe Beobachter: Tiere. Eine Katze ist es, die der ersten Szene ihre kommentierende Stimme leiht. In der Erzählerrolle folgen ihr Fische, Hunde, Pferde, Fliegen und allerlei anderes Getier.
Diese narrative Besonderheit ist alles andere als ein manierierter Stileinfall des libanesischstämmigen kanadischen Autors Wajdi Mouawad, sondern eine immanente erzählerische Notwendigkeit einer unglaublichen Geschichte, die man als eine Parabel der Bestialität bezeichnen könnte. Mouawad ist dem Animalischen im Menschen auf der Spur, seinen bestialischen Instinkten, die völlig unabhängig von zivilisatorischen Kategorien wie Mitgefühl, Verständnis und Erbarmen in ihm vorhanden sind und wie bei jedem anderen Tier funktionieren.
Tierische Perspektive
Durch die tierische Perspektive erreicht der Autor eine radikale, verstörende Entpsychologisierung seiner menschlichen Protagonisten. Lediglich äußere Handlungen und Dialoge werden wiedergegeben, jede innere Motivation ihrer Taten und Äußerungen fehlt. Nur die Regungen und Gedanken der tierischen Erzähler werden übermittelt. Die fallen naturgemäß – so zwischen Kakerlake und Pferd – sehr unterschiedlich komplex aus, was, zusammen mit dem ständigen Erzählerwechsel, dem geschilderten Ablauf der Geschehnisse eine eigene Art der Spannung verleiht.
In Kurzform geht die Geschichte so: Ein Mann verfolgt den Mörder seiner Frau. Die Spur führt in verschiedene Indianerreservate auf kanadischem und amerikanischem Boden. Nachdem ein weiterer Frauenmord geschehen ist, wird der Verfolger selbst vom Mörder vergewaltigt. Bald darauf findet er sein bis dahin verborgenes Totem und legt damit einen langen Weg zurück – von Kanada bis in die Wüste von New Mexico, wo er endlich Rache nehmen kann.
Diese letzte Phase, sozusagen der finale, überraschende Akt der blutigen Tragödie, wird tatsächlich von einem Menschen erzählt, dem Gerichtsmediziner. Die Tiere können es wohl nicht, denn sie sind beschäftigt: als ausführende Organe bei der Hinrichtung und Vernichtung des ultimativ Bösen.
Man braucht schon ziemlich gute Nerven und eine große Abstraktionsbereitschaft, um diesem Buch zu begegnen. Indianische Mythen sind fest in den Subtext der Erzählung verwoben, aus deren Tiefen es ein verschüttetes Kriegstrauma aus dem libanesischen Bürgerkrieg zu bergen gilt.
Nur ein gewissermaßen symbolorientiertes Lesen macht die surreal übersteigerten Gewaltszenarien überhaupt erträglich. Diese Art der Lektüre wird durch die animalische Perspektive immerhin sehr erleichtert. Wajdi Mouawad taucht so tief ein in die kreatürlichen Bereiche der Welt, dass man sich nach längerem Lesen in einer anderen Bewusstseinsdimension wähnt. Das ist sehr eindrucksvoll. Aber angenehm fühlt sich natürlich anders an. KATHARINA GRANZIN
■ Wajdi Mouawad: „Anima“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. dtv, München 2014, 448 Seiten, 16,90 Euro
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