Der Osten bleibt rot – der Westen sieht rot

KONFLIKTLINIEN Nach der Wende tendenziell durchmischt, separiert sich die linke Boheme des Prenzlauer Bergs und Kreuzbergs wieder. Besinnen sich die einen auf ihre Geschichte, ziehen sich die anderen auf Abwehrzauber zurück

Die tradierte Lesart einer solchen Wandlung wäre die des Verräters, der zum biederen Einzelhändler wird

VON HELMUT HÖGE

„Spätzle-Stasi“ wird der Spitzelskandal in Heidelberg genannt. Dort flog gerade ein Aktivist der Antifa-Bewegung, „Simon Brenner“, als verdeckter LKA-Ermittler auf. Überraschend war, dass er – enttarnt und zur Rede gestellt – „vom normalen Umgangston der linken Szene in einen Behördenjargon switchte“, wie sich einer der Betroffenen wunderte. Das war bei den Stasi-Spitzeln im „Dichterbezirk“ Prenzlauer Berg anders: Hier waren Leben und Werk – Lyrik und Frontberichte – noch identisch. Bei Sascha Anderson und Rainer Schedlinski vor allem, die einmal als „Gravitationszentren“ eines großen Kreises von Künstlern galten. Nach ihrer Enttarnung stritten sie erst mal alles ab, gleichwohl gab und gibt es Bespitzelte, die nach wie vor fast freundschaftlich mit ihnen verkehren – die Dichter Bert Papenfuß und Stefan Döring etwa.

Schedlinski gab 1986 die Szene- und Literaturzeitschrift Ariadnefabrik heraus, „deren Abonnent das Ministerium für Staatssicherheit war“, wie sein einstiger Weggefährte Henryk Gericke in der neuen Ausgabe der Literaturzeitschrift Prenzlauer Berg Konnektör schreibt. Sie wird von ihm und Bert Papenfuß herausgegeben. Gericke hat sich darin fast liebevoll der Vergangenheit und Gegenwart von Schedlinski angenommen, der „nicht nur ein inoffizieller Mitarbeiter, sondern auch ein bekennender Strukturalist war“, weswegen „sein Leben vom fließenden Strukturwechsel zwischen den Systemen – Szene und Stasi – bestimmt“ wurde. Aus heutiger Perspektive drängt sich Gericke der Eindruck auf, „dass in seinen beinahe tonlosen Gedichten, wie in der bilderlosen Sprache der Staatssicherheit, die Metaphern zu Codes mutierten. Die Systemanalysen Schedlinskis jedenfalls wären heute von einigem Wert“ – wenn der sie fortschriebe.

Zunächst gründete Schedlinski zusammen mit Sascha Anderson nach ihrer Enttarnung das Druckhaus Galrev mit angeschlossener Kneipe Kyril. So wie auch die Bespitzelten Papenfuß und Döring eigene Zeitschriften gründeten – erst Sklaven, dann Gegner. Letztere erscheint noch heute im Basisdruck – dem Verlag des Neuen Forums. Döring eröffnete dann in Prenzlauer Berg die Bar Luxus, und Papenfuß jüngst – nach dem Ausstieg aus seinem vom Tourismus verbrannten Kaffee Burger – die Kulturspelunke Rumbalotte continua. So heißen auch seine Gedichtbände, die er im Rhön Verlag von Peter Engstler veröffentlicht. Anderson zog nach Frankfurt/Main – und schrieb seine Biografie, „Sascha Anderson“. Laut Gericke mischt er dort weiter im Literaturbetrieb mit: „bezeichnenderweise im Gutleut Verlag“.

Schedlinski hat dagegen aufgehört zu schreiben, wie seinem nunmehrigen Biografen Gericke bekannt wurde. Er hat auch keine Kneipe mehr, sondern eine Firma – „namens Thermalforce“ – gegründet. Auf Basis eines Patents für einen thermalelektrischen Generator. Die „tradierte Lesart einer solchen Wandlung wäre die des Verräters, der zum biederen Einzelhändler wird“. Das aber „würde seiner Person nicht gerecht“. Gericke fragt sich stattdessen, was es heißt, „dass sich der Dichter eines kühlen Sprechens dem Handel von Wärmeleitmitteln widmet“. Schedlinski habe anscheinend „erkannt, dass es ein letzter Akt des Sprechens ist, zu schweigen, wenn einem niemand mehr eine Zeile abnimmt, geschweige denn ein Wort glaubt. Die Hingabe an die Erzeugung von Energie durch Wärme mag eine Folge der Kälte sein, mit der man seiner Person heute begegnet.“

Es soll hier noch von zwei weiteren Personen in diesem abseits der heutigen Bionade-Oberfläche in Prenzlauer Berg fortbestehenden „Underground“ die Rede sein, denen man „mit Kälte begegnet“ – und zwar in Westberlin: Alexander Brener und Barbara Schurz – zwei Künstlernomaden in der Tradition des Aktionismus mit Basislager im „Dichterbezirk“, die ihre Reise- und Aktionserfahrungen im Gegner veröffentlichen und deren letzter Bericht – aus Istanbul – im Basisdruck Verlag noch immer der Auslieferung harrt. Demnächst erscheint schon ihr Italienbericht – im Selbstverlag. Es geht ihnen dabei anscheinend nicht um den Verkauf. Die Feministin Barbara Schurz kommt aus dem Wiener Slawistikinstitut. Alexander Brener wiederum wird von der sibirischen Literaturwissenschaftlerin Natalia Ottovordemgentschenfelde in ihrer „Studie zur Phänomenologie und Typologie des ‚Narren in Christo‘ “ als „Kulminationspunkt des Moskauer Aktionismus“ bezeichnet. Wobei die Autorin diesen auf die heiligen Narren im frühchristlichen Mönchtum Russlands zurückführt. Über das „Lachen bei Michail Bachtin“ nach dem Zweiten Weltkrieg kommt sie dann zu Wenedikt Jerofejews „Reise nach Petuschkin“ – dem für sie ersten modernen „Narren in Christo“.

Schedlinski hat auch keine Kneipe mehr, sondern eine Firma – „namens Thermalforce“ – gegründet

Ihre Studie endet mit den „Provokationen“ Alexander Breners: Im Moskauer Puschkin-Museum schiss er vor ein Bild von van Gogh, vor dem Puschkin-Denkmal versuchte er seine an der Aktion mitwirkende Ehefrau zu kopulieren. Gab jedoch bald auf – und rief: „Es klappt nicht! Ja, es klappt nichts bei den modernen Künstlern!“ Er bewarf die weißrusische Botschaft mit Ketchupflaschen – und wurde zusammengeschlagen. Er übermalte im Amsterdamer Stedelijk-Museum das Kreuzbild von Malewitsch mit einem Dollarzeichen und kam ins Gefängnis. Und in Berlin übersprühten er und Barbara Schurz ein Kitschbild an der East Side Gallery. Auch in ihrem Istanbulbericht kommen noch jede Menge Obszönitäten und Gewalttätigkeiten vor.

Aber schon bei Breners nacktem Auftauchen bei einem Modeevent auf einem Schiff an der Moskwa, wo er auf das Publikum einschlug und schließlich die Musikanlage zertrümmerte, deutete sich an, dass auch dieser Aktionismus vom Kunstbetrieb vereinnahmt werden kann: Der Veranstalter stoppte seine Bodyguards mit den Worten: „Regt euch nicht auf, Männer, es ist ja Brener. Das regeln wir anders.“ Immerhin, schreibt Frau Dr. Natalia Ottovordemgentschenfelde: „Sein anti-intelligibler Exhibitionismus“ und sein „Verlangen nach Äußerung einer absoluten Aufrichtigkeit belebte die ‚Narren-in-Christo‘-Tradition mit ihrem lüsternen Wunsch zum Leiden“.

Als Papenfuß 2000 eine Veranstaltung mit Alexander Brener und den Westberliner Künstlern Thomas Kapielski und Klaus Theuerkauf (von Endart) im Brecht-Zentrum organisierte, wurde Brener erneut angegriffen, von Kapielski verbal und von Theuerkauf tätlich, wobei Letzterer jedoch den Kürzeren zog, wie er in dem kürzlich von „Anarcho-Kramer“ veröffentlichten Buch „Überlegungen zum Problem von Übermalungen in der Kunst“ berichtet. Dort meint Theuerkauf rückblickend und immer noch wütend auf Brener: „Wieder einmal kam dem Mistbock zu viel Bedeutung zu.“ Er nimmt dem Moskauer insbesondere übel, dass dieser ein „Lego-KZ“, das Zbigniew Libera 1996 in Theuerkaufs Galerie Endart ausstellen wollte, zuvor zerstört hatte. Auch der Herausgeber Bernd Kramer mag diesen Aktionismus nicht: „Der Russe und die Österreicherin, diese Dumpfbacken“, schimpft er. Kapielski riet den beiden auf der Veranstaltung, eine Weile besser nichts zu machen, es werde sowieso schon zu viel getan. Im Übrigen unterstellen die Autoren dem Duo Brener/Schurz, dass sie allzu mediengeil und karrieristisch sind. Nichts könnte falscher sein. Eher befürchten die drei Westberliner, ihre eigene „Provokationskunst“, die bis zur Wende und noch darüber hinaus stetig Früchte trug, könnte bei solchen Aktionismen, die dazu noch – wie 1945 die Aktivitäten der Kulturoffiziere – quasi aus Moskau kommen, an Ansehen verlieren. Ihre Beschimpfungen sind eine Art Abwehrzauber.

■ Heute Abend lesen Papenfuß, Döring und weitere Autoren des Peter Engstler Verlags in der Rumbalotte continua, Metzer Straße 9. In der Woche darauf übermalen Brener/Schurz einen Teil der Kneipe, in dem sich die Buchhandlung Straßenschaden von Alexander Krohn befindet