Der süße Charme des Herrn Naderloo

taz-Serie „Besuch in der Marheineke-Halle“ (Teil 3 und Schluss): Mohsen Naderloo handelt mit Trockenfrüchten. Der Exiliraner, der einst vor dem Regime in Teheran flüchten musste, gilt als einer der galantesten Verkäufer in der Kreuzberger Halle

von Hans W. Korfmann

Die Früchte von Herrn Naderloo sind nicht so frisch wie die vom Gemüsestand gegenüber. Sie sehen ziemlich vertrocknet aus. Egal ob es sich um Bananen, Aprikosen, Melonen, Blaubeeren, Berberitzen oder die seltene Drachenfrucht Pitahaya aus der Familie der Cactaceae handelt. Sie wiegen fast nichts mehr, die Trockenfrüchte in den Vitrinen das Marktstands mit dem poetischen Namen „Yalda“.

„Ich hätte gern Preiselbeeren“, sagt eine junge Frau. „Darf’s ein bisschen mehr sein? Zwei, drei Kilo vielleicht?“, fragt Mohsen Naderloo schmunzelnd. Die Frau lacht. Naderloo ist der charmanteste Verkäufer in der Marheineke-Markthalle, und es liegt womöglich nicht allein am „größeren Gesundheitsbewusstsein der Frauen“, dass sie so zahlreich bei ihm einkaufen. „Zweihundert Gramm Feigen bitte“, sagt die Nächste, eine auffallend attraktive Frau mit glänzend schwarzem Haar und eindrucksvollen Augen. Die Schönheit der Kundin entgeht dem Händler nicht, weshalb er sich ein kleines – gut getarntes Kompliment – erlaubt: „Aber von Feigen bekommen Sie doch große Ohren!“

Nicht nur zu Frauen ist der Markthallenhändler freundlich. „Wie viel darf’s sein? Ein Kilo?“ – „Ich bin ein armer Rentner“, sagt der Kunde. „Was glauben Sie, was ich in 20 Jahren bin?“, antwortet Herr Naderloo. Wenig später weiß er, dass auch dieser Herr einmal mit Obst handelte. Frischobst allerdings. „1.500 Mark hab ich Rente gezahlt jeden Monat!“ – „Ja, das waren die fetten Jahre. Da hatten die Studenten sogar noch Zeit, über den Kommunismus nachzudenken“, sagt Naderloo, der einmal Geografie studiert hat.

Vom Kommunismus hat er auch einiges mitbekommen. Weil er damals in Teheran eigentlich auf jeder Demonstration mitlief, egal ob es nun die Linken waren oder die Muslime, die gegen den Schah protestierten. Naderloo war dagegen. Schon als Schüler ertrug er die Einengung der Gedankenfreiheit nicht, diesen Schulhof, auf dem sie morgens vor dem Unterricht antreten und die Schahhymne singen mussten. Als er und einige Freunde sich weigerten, kamen Männer mit langen Stöcken und begannen auf die Schüler einzuschlagen. „Dabei waren wir Kinder, vielleicht 13 Jahre alt!“

Kurze Zeit im Paradies

Gemütlich war es in Mohsen Naderloos Kindheit nie. Zu früh starb die Mutter, monatelang sprach der Junge mit niemandem. Dann wanderte er von Verwandten zu Verwandten „durch alle Schichten“, wohnte im Norden Teherans, wo die Reichen leben, und im armen Süden. Am meisten kümmerte sich noch die Großmutter um ihn. Es war ein trauriges Leben – bis zum Umsturz. Plötzlich, für eineinhalb Jahre, „so bis zum Sommer 1981, war Teheran ein Paradies. Es war, als hätte sich der Himmel über uns geöffnet. Wir waren frei!“

Dann kamen religiöse Fanatiker. Mohsen Naderloo erinnert sich, wie er eines Tages einer Frau gegenüberstand, die aus der Stirn blutete. Ein Mann hatte ihr das Kopftuch, unter dem einige Haarsträhnen hervorguckten, tiefer in die Stirn gezogen und eine Reißzwecke hindurchgedrückt. Immer öfter fuhren jetzt radikale Muslime in Scharen mit Motorrädern durch die Stadt, um aufzuräumen. „Teheran roch nach Tod“, aber Mohsen war Pazifist. Er hatte endgültig genug von diesem Land. Er wollte fort.

1984 tauchten in dem Schneiderladen, in dem er nach dem Abitur arbeitete, Schmuggler auf. Sie halfen Menschen über die Grenze. Mohsen kratzte alle Ersparnisse zusammen, lieh sich Geld von Verwandten. Mehrere Tage waren sie unterwegs, zu Fuß, mit Pferden, am Ende konnten sie nicht mehr sitzen und nicht mehr laufen.

Mohsen Naderloo erinnert sich noch gut, wie er eines Morgens nahe der Grenze inmitten einer blühenden Wiese aufwachte. „Ich dachte, das ist das Paradies. Dabei war es meine Heimat, die ich gerade verlassen wollte.“ Er ist nie wieder zurückgekehrt seitdem. Schon lange wartet er auf seinen iranischen Ausweis, damit er seinen Vater noch einmal besuchen kann. Und es ist auch kein Zufall, dass er seinen Laden in der Markthalle „Yalda“ genannt hat. Yalda, das ist das Fest der Wintersonnenwende, der Wiedergeburt, der 21. Dezember. Die Großmutter versammelte die Familie an diesem Tag immer um sich und erzählte lange Märchen, während die Kinder Nüsse und Trockenfrüchte knabberten. Eine halbe Nacht lang. „Das vergesse ich nie.“ Selten waren diese Momente der Geborgenheit.

Sie waren zu neunt gewesen, als sie in den Bergen die Grenze überschritten. Sie drückten sich in finsteren Hotels herum, in denen die sogenannten Botschafter verkehrten: Schlepper, die sie weiter nach Norden brachten. Mohsen Naderloo wollte nach Kanada, doch dafür reichte sein Geld nicht. Allein für den falschen Ausweis hatte er 1.000 Dollar bezahlt. Das Papier hatte einst einer Eva gehört, aber die Grenzposten kannten weder Adam noch Eva.

So landete Mohsen Naderloo in Berlin-Schönefeld. Aber er wollte nicht in der DDR bleiben, er wollte mindestens nach Skandinavien, ans nördlichste Ende Europas, „so weit weg wie möglich“. Doch der Taxifahrer brachte ihn nicht zum Ostbahnhof, sondern nur zur Friedrichstraße. Und die S-Bahn, in die er einstieg, brachte ihn nicht nach Rostock, sondern nach Westberlin.

Auch in Deutschland fühlte der junge Iraner sich nicht heimisch. Man schickte ihn ins Flüchtlingslager nach Augsburg, damit er Deutsch lernte. Er lebte in Nürnberg, Kassel und Frankfurt. Und er begann in Marburg mit dem Studium, kellnerte, arbeitete im Pflegedienst, schlug sich durch, bis er irgendwann wieder in Berlin landete, wo eine Griechin namens Philomeni Trockenfrüchte und Nüsse auf Wochenmärkten verkaufte.

Früchte fürs Leben

„Probieren Sie die gefüllten Datteln“, sagt Herr Naderloo und lächelt – ein ruhiges, ungetrübtes Lächeln, in dem keine Spur mehr zu sehen ist von dem weiten Weg über die Berge. „Ich mag keine Datteln!“, sagt die Frau. „Na“, sagt da Herr Naderloo und lächelt ein bisschen weniger, „dann müssen Sie die Maulbeeren nehmen. Wissen Sie, wie man bei uns sagt: ‚Wer traurig ist, muss Maulbeeren essen‘. Damit das Leben wieder süßer schmeckt!“