Vergessen Sie’s doch einfach!

GEDÄCHTNIS Ein neues Jahr. Zeit, alte Erinnerungen hinter sich zu lassen und dem Gehirn Platz für neue zu schaffen

Die Forschung: Seit etwa 40 Jahren beschäftigen sich Forscher mit dem menschlichen Vergessen. Die Fähigkeit unseres Gehirns galt jedoch auch unter Wissenschaftlern lange Zeit nur als die „Schattenseite des Erinnerns“. Erst in den vergangenen Jahren erlebt das Vergessen einen Aufschwung. Forscher zeigen mehr und mehr seine Wichtigkeit für das gezielte Erinnern auf.

Die Übung: Wer besser Vergessen will, kann das üben. Zum Beispiel, indem man immer wieder die wichtigen Ereignisse aus einem Gedächtnisordner wie „Urlaub“ durchgeht. Dadurch werden nicht nur diese Erinnerungen gestärkt, sondern auch die dazugehörigen irrelevanten Erinnerungen mehr und mehr unterdrückt. Das Phänomen nennt sich „abrufinduziertes Vergessen“.

VON MARIA ROSSBAUER

Karl-Heinz Bäuml sieht Menschen beim Vergessen zu. In einem kleinen Raum im Klinikum Regensburg schiebt der Psychologe Studenten in eine große graue Röhre. Bis zu einer Stunde liegen die Testpersonen ganz still darin, sollen dabei kleine Denkübungen machen. Sich zum Beispiel an ein paar Wörter aus einer Liste erinnern, andere wieder vergessen. Am Ende leuchten auf Bäumls Computerbildschirm viele bunte Bilder. Sie zeigen die Gehirne der Studenten. „Je rotgelber es auf der linken Seite hinter der Stirn aufleuchtet, desto aktiver sind die Brodmann-Areale 8 und 9“, sagt Bäuml. Das sind jene Bereiche in unserem Gehirn, die für die sogenannten effektiven Aufräumarbeiten zuständig sind. Für unsere Fähigkeit zum Vergessen.

Doch ebenjene Fähigkeit hat bei uns keinen besonders guten Ruf. Wir scheinen am liebsten gar nichts vergessen zu wollen. Deshalb malen erwachsene Menschen Zahlen und Buchstaben in Gedächtnistrainingsbücher und sitzen schwitzend vor Nintendos, um sich von Dr. Kawashimas Gehirnjogging fragen zu lassen, was 3 mal 17 ist oder 34 plus 375. Und das, obwohl man eigentlich weiß, dass derartige Gedächtnisübungen nicht auf andere Tätigkeiten übertragbar sind. Nach monatelangem Dr.-Kawashima-Training kann man also sehr schnell 3 mal 17 multiplizieren. Sonst bringt das dem Gedächtnis jedoch nichts. Doch die Erinnerungsarbeiter hoffen auf Unterstützung im Kampf gegen das Vergessen. Denn wer vergisst, wirkt wie ein unorganisierter Schlamper und zweifelt schnell an seiner eigenen Leistungsfähigkeit.

Dabei ist Vergessen das genaue Gegenteil: Vergessen heißt aufräumen, Gedanken aussortieren, alten Kram loslassen. Nur wer auch mal vergisst, ist offen für neue Umstände im Leben, kann sich anderes, Wichtigeres besser merken. Gerade zu Beginn eines neuen Jahres, wenn alter Ballast den guten Vorsätzen weichen soll.

„Wie wichtig das Vergessen für uns ist, wurde bisher maßlos unterschätzt“, sagt der Psychologe Bäuml. Weltweit gebe es nur wenige Forschergruppen, die sich mit dem Thema Vergessen befassen. Der besonderen Fähigkeit den Ruf zu retten, sieht der 50-Jährige als seine Mission: „Die Botschaft ‚Vergessen können ist toll‘ ist nicht ganz leicht zu verbreiten. Aber es wird besser.“

Zeit, die Lanze zu brechen für eine verschmähte Eigenschaft.

Unser Gedächtnis funktioniert eigentlich nach einem ganz einfachen Prinzip: Kommen neue Erinnerungen rein, wird erst mal sortiert. Wie bei einem Computer werden Neuankömmlinge in verschiedene Verzeichnisse, in Ordner geschoben. Sogenannte Merkmale entscheiden dabei, was wo eingeräumt wird. Alle Gedankenfetzen des letzten Sommerurlaubs kommen beispielsweise in den Ordner „Urlaub“ oder die Erinnerungen werden einer Farbe oder einem bestimmten Stimmklang zugeordnet. Soll man nun von den Erlebnissen dieses Urlaubs berichten, öffnet unser Gehirn den jeweiligen Ordner, und alle Urlaubserinnerungen stehen zum Abrufen bereit. Doch welche der Erinnerungen sind relevant? Welche kann man getrost vergessen?

„Es gibt Prozesse in unserem Gehirn, die immer wieder eine Prioritätenliste erstellen“, sagt Bäuml. „Das heißt, wir sortieren aus.“ Welche es auf Platz eins der wichtigen Erinnerungen schafft und welche langfristig rausfliegt, entscheidet unser Gehirn vor allem daran, wie oft die Information aufgerufen wird. Wer jeden Morgen ein Müsli mixt, wird wohl kaum vergessen, was alles reinkommt und wie viel Milch man dazu braucht. „Die Dinge, die von großer täglicher Relevanz sind, kriegt man ohnehin nicht los“, sagt Bäuml.

Terror bleibt im Gedächtnis

Alles, was mit Emotionen zu tun hat, ist auch schwer zu vergessen. Der Klassiker ist dabei der 11. September 2001: Wahrscheinlich erinnert sich jeder daran, was er an jenem Tag getan hat. Als die Flugzeuge ins World Trade Center stürzten, waren die meisten geschockt oder traurig. Sobald die Bereiche im Gehirn, die für alles Emotionale zuständig sind, mit im Spiel sind, werden Erinnerungen robuster abgespeichert. Oft zum Leidwesen der Menschen: Alte Liebschaften aus dem Kopf zu bekommen ist meist nicht so einfach.

Schafft man es aber schließlich doch, den Ordner „Freund“ oder „Freundin“ neu zu befüllen, ist das Vergessen besonders wichtig. Denn ruft der oder die Neue an, wäre es hilfreich, wenn einem dann nicht sämtliche Namen alter Lebensabschnittspartner ins Gehirn ploppen.

Auch dabei helfen die beiden Brodmann-Areale. Sie sorgen dafür, dass die Ordner quasi ausgeräumt werden und dann wieder neu befüllt werden können. Wie das Vergessen aber beim Menschen genau funktioniert, darüber wissen Forscher noch relativ wenig. In Tierstudien fanden Wissenschaftler schon einen konkreten Helfer beim Vergessen: ein Protein namens Rac. Fruchtfliegen, die viel Rac haben, vergessen sehr schnell, Fliegen mit wenig Rac hingegen hängen verhältnismäßig lange an bestimmten Erinnerungen.

Vergessen heißt aufräumen, Gedanken aussortieren, alten Kram loslassen. Nur wer vergisst, ist offen für Neues

Doch eigentlich ist unser Gehirn ein bisschen wie Omas Dachboden: Wirklich weggeworfen wird nichts. Die Speicherplätze in unserem Langzeitgedächtnis sind unvorstellbar groß. Forscher gehen heute davon aus, das nichts tatsächlich gelöscht wird. Also keine Sorge: Braucht man das Gesicht einer alten Liebschaft plötzlich doch wieder, ist es schnell hervorgekramt. Vergessen heißt nicht für immer löschen.

Es geht eigentlich um die Gewichtung: Wichtiges wird gestärkt, Unwichtiges unterdrückt. Ein aktiver Prozess in unserem Gehirn, der nicht versehentlich nebenbei stattfindet. Wir brauchen diese Fähigkeit, um uns gezielt an Aktuelleres zu erinnern. Und nur, wer es schafft, das alte Gerümpel im Gehirn loszuwerden, wird sich auch gut an wirklich Relevantes erinnern können. „Das Einprägen von Dingen ist nur eine Seite“, sagt Bäuml. „Die Frage ist aber: Wie kriege ich die Sachen erfolgreich wieder raus?“

An die hundert Menschen hat Bäuml schon in die graue Röhre geschoben. Er erforscht das menschliche Vergessen seit etwa 15 Jahren. Dabei ist ihm aufgefallen: Die Vergessensbereiche im Gehirn leuchten nicht bei jedem Menschen gleich intensiv. Menschen vergessen also unterschiedlich gut. Kinder können diese effektiven Aufräumarbeiten ohnehin erst ab dem sechsten Lebensjahr, zuvor gewichten sie alles neu Gelernte gleich stark. Alte Menschen verlernen die Fähigkeit wieder. Unter erwachsenen Menschen sind die 20- bis 30-Jährigen die besten Vergesser.

Und wer unter ihnen besonders gut vergessen kann, hat Glück: „Diejenigen, die am besten im Gehirn aufräumen können, sind oftmals auch die Erfolgreicheren im Leben“, sagt Bäuml, „denn sie sind meist auch die Intelligenteren und haben so die besseren Voraussetzungen.“ Wahrscheinlich eben weil sie besonders gut Irrelevantes von Relevantem unterscheiden, aussortieren und sich so besser auf neue Lebenssituationen einstellen können, meint Bäuml. In Tierstudien konnte man diese Vermutung belegen: Fruchtfliegen, die gut vergessen, passen sich besser an neue Umweltbedingungen an. Sie sind also die Überlebensfähigeren.

Also Schluss mit dem ständigen Auffrischen irrelevant gewordener Erinnerungen. Weg mit CDs, die an alte Tage einer verflossenen Liebe erinnern, Ende mit den Facebook-Geburtstagserinnerungen längst unwichtig gewordener Bekannter. Weg mit alten Träumen. Das schafft Platz für neue. Das Leben geht weiter. Vergessen heißt auch befreien. „Manchmal brauchen Menschen einfach auch ein bisschen Mut, um Dinge als irrelevant einzustufen“, sagt Bäuml.