Die Rhythmen der Oberflächen

Konzentration aufs Karge. Daniel Goldins starker neuer Tanzabend „Myriaden“ im Kleinen Haus in Münster

Für Henri Cartier-Bresson war Photographie, den Rhythmus von Oberflächen, Schattierungen und Linien zu erkennen. Eine Tätigkeit des Auges, bei der die Kamera nur Hilfsapparat ist. Daniel Goldins neue Choreographie „Myriaden“ wandelt diese unmittelbare und flüchtige Handlung in eine Meditation des Wiederkehrenden in „unzähligen“ Variationen. Und das mittels der Verknüpfung von Bachs „Aria mit 30 Veränderungen“ („Goldberg-Variationen“) in der Cembalo-Einspielung von Keith Jarret und zweier Bildmotive, die Cartier-Bresson 1933 in Valencia und Madrid realisierte.

„Myriaden“ gehört zu den starken Inszenierungen Goldins an den Städtischen Bühnen in Münster. Nicht zuletzt wegen der Konzentration aufs karge Wesentliche. Leer bis auf eine „spanische“ hohe helle Mauer mit breiter schwarzer Scheuerspur und lukenartigen Fenstern am hinteren Ende ist die Bühne. Und sie liegt meist ziemlich im Dunklen. Dafür kommen mobile Lichtquellen zum Einsatz: eine Kerze wird an der Wand entlang getragen, eine Glühbirne aus einem Fenster heruntergelassen, ein Handscheinwerfer wirft tanzende Schatten und – sehr schöne Idee – Lämpchen in Büchern beleuchten fahl die Gesichter der TänzerInnen. Eine ähnliche Umkehrung gibt es gegen Ende, wenn Asche nicht aufs, sondern vom Haupt gestreut wird.

Die tanzenden Körper spiegeln die Bild- und Klangoberflächen, die Rhythmen von Raum und Musik, brechen sie aber auch immer wieder, werden selbst zu Assoziationsflächen für etwas jenseits des Sichtbaren. So, wenn sie in einer Art Ringelreihen zuckende und bebende Metamorphosen bilden. So, wenn beim Pas de deux zwei Leiber sich umwinden, umschlingen und dabei Purzelbäume schlagen – einer der Höhepunkte. Scheinbar Sakrales wird zu Surrealem, wenn eine Wasserschüssel zunächst Fußwaschungen dient, um später mit dem Rücken über die Bühne geschoben zu werden.

Aufnahmen der „Goldberg-Variationen“ gibt es bekanntlich auch mit Klavier oder Streichtrio. Dass für „Myriaden“ nur Jarrets Cembalo-Einspielung in Frage kommt, wird schnell klar. Spätestens die Bewegungen hektisch-mechanischen Getriebenseins bei den raschen Tempi sind hier quasi mimetisch.

Bachs Komposition ist ein geschlossener Zyklus: Aria – Variationen – Aria. Goldin bricht das auf. Am Ende ertönt das „Kyrie eleison“ aus der H-Moll-Messe. Dazu tritt Ines Petretta im roten Umhang an den Bühnenrand. Bis da wurden nur weiße und graue Hemden getragen. Der Bruch ist nur scheinbar. Nicht nur wegen der Ähnlichkeit von Bassthemen in beiden Kompositionen, oder weil die 30 Variationen von neun Canons (und einem Quodlibet) strukturiert werden – auch das Kyrie ist ein Wechselgesang. Die ganze Choreographie kontrastiert die Bach-untypische, eher heitere Musik mit leeren Blicken, Gesten des Verloren- und Getriebenseins. Sozusagen kontrapunktisch. MARCUS TERMEER

19:30 Uhr, Theater MünsterInfos: 0251-59090