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Schreiber des Wissens

ONLINE Ein Technofan, ein Forscher, ein FDP-Mann und ein Bankangestellter – sie haben einen der schärfsten und längsten Kämpfe in der Wikipedia ausgefochten. Den Streit um den Eintrag „Neoliberalismus“

Das Lexikon in Zahlen

■  Gründung: Am 15. Januar 2001 startet die englischsprachige Wikipedia, am 15. März 2001 die deutschsprachige.

■  Umfang: Mehr als 1.180.000 Artikel in der deutschen Variante.

■  Macher: Von den rund 800.000 deutschsprachigen Autoren bearbeiten 7.000 häufiger als fünfmal im Monat Artikel.

■  Nutzer: 160 Millionen Unique Visits im November 2010. Beliebter sind nur die Seiten von Google, Facebook, eBay und Youtube.

■  Links: de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedistik (wissenschaftliche Studien) und wiki-watch.com (Seite der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder)).

VON MEIKE LAAFF UND OLIVER SPERL (ILLUSTRATION)

Gleich am Anfang bringt Wikipedia-Autor „Fgb“ Tiere ins Spiel. Neoliberalismus lasse „den freien Wolf im freien Stall der freien Hühner frei wildern“, schreibt er in den Artikel. Es ist der 20. August 2002, 16 Uhr 10, als er auf den Button zum Speichern klickt – die erste Änderung an dem Wikipedia-Eintrag „Neoliberalismus“. Über 2.270 weitere werden in den kommenden acht Jahren folgen. Um kaum einen Eintrag in der Online-Enzyklopädie haben die Wikipedianer härter und verbissener gekämpft. Würde man die Diskussionen dazu ausdrucken, ergäbe das einen 586 Seiten starken Papierstapel. Über 270 angemeldete Enzyklopädisten stritten mit. In unzähligen Stunden am Rechner. Unentgeltlich. Ohne namentliche Nennung. Laien und Hochschuldozenten, Spaßvögel und Kindergärtner, Verbesserer und Verbissene. Wer sind diese Menschen eigentlich?

Der Pedant

15. Dezember 2005, 16.54 Uhr. Der Benutzer „Minister“ schreibt auf der Diskussionsseite zum Artikel „Neoliberalismus“: „Das Problem ist eben, dass Neoliberalismus ein sehr emotional besetzter Begriff ist. Einige politische Gruppen in Deutschland wollen den Begriff eben als Kampfbegriff gegen den sog. ‚Sozialabbau‘ behalten, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes bedeutet.“

Philipp Krebs sitzt gerade auf einem Caféstuhl. Sein blau-weiß gestreiftes Polohemd ist gebügelt, die Haare hat er ordentlich hochgestrubbelt. Krebs ist der Mann hinter dem Enzyklopädisten-Namen „Minister“. Er wohnt in Lörrach, einem Städtchen gleich an der deutsch-schweizerischen Grenze. Philipp Krebs ist Anfang zwanzig und das, was man unter einem wohlerzogenen jungen Mann versteht.

Mehrere Wochen hatte er den Artikel „Neoliberalismus“ beobachtet, bevor er ihn im Herbst 2005 zum ersten Mal bearbeitete. Der Eintrag war gerade zum „exzellenten Artikel“ gewählt worden. Ein Qualitätssiegel der Wikipedia. Diejenigen, die drei Jahre fleißig an dem Text geschrieben hatten, waren stolz: Satz für Satz, Quelle für Quelle hatten sie ihn ergänzt. Oder auf der Diskussionsseite, einer Art Forum, die zu jedem Wikipedia-Artikel gehört, um die treffendste Formulierung gerungen. Andere Enzyklopädisten verstanden unter „Neoliberalismus“ etwas anderes – und löschten, was ihnen missfiel, oder ergänzten, was ihnen fehlte. Ein Kampf um die Deutungshoheit brach aus.

Am 25. Oktober 2005 stieg Philipp Krebs in die Debatten ein, erst unter seinem Pseudonym „Minister“, später unter Klarnamen. Sein Ziel: die Wikipedia verbessern. Er ärgerte sich, dass viel behauptet wurde, ohne es zu belegen. „Ich hatte das Gefühl, es fehlte an Leuten, die das Ganze auf eine sachliche Ebene bringen“, sagt er heute. Befürworter des Neoliberalismus hatten ein neues Unterkapitel namens „Kritik an der Kritik“ angelegt. Krebs schrieb in seinem allerersten Beitrag auf der Diskussionsseite, dass er das für unnötig hält. Und dass es außerdem POV sei. Das ist Wikipedia-Jargon und steht für „Point of View“ – Standpunkt. Eine Meinungsäußerung, die in einem enzyklopädischen Eintrag nichts zu suchen habe. In den nächsten Tagen und Monaten veränderte Krebs auch Kleinigkeiten. Er sortierte, formatierte, ergänzte.

Krebs ist kein Experte für Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitet als Mechatroniker. Irgendwann begann er aber, sich für Wirtschaftspolitik zu interessieren. Wenn ihm etwas auffiel, ergänzte oder löschte er in einem Eintrag. Heute bezweifelt er, dass kompetente Laien zum Neoliberalismus-Eintrag noch allzu viel beitragen können. Krebs greift in Wikipedia-Artikel nur ein, wenn er sich auskennt, bei Rollengewindetrieb oder Kugellagermotoren.

Fragt man Krebs, ob man ein Klugscheißer sein muss, um sich in der Wikipedia zu engagieren, huscht über sein Gesicht ein Ausdruck, der klarmacht, dass ein solches Wort nicht zu seinem Sprachschatz gehört.

Einfach war es nicht, ihn zu diesem Treffen zu überreden. Nur wenige Wikipedianer editieren unter echten Namen. Philipp Krebs treibt aber etwas um: „Es gab damals den Versuch, den Artikel in eine bestimmte Richtung zu lenken“, sagt er. „Den Versuch, ein Bedeutungsmonopol in Bezug auf Neoliberalismus zu errichten – so, wie Lafontaine und Co den Begriff verstanden haben wollen.“ Faktisch Falsches könne schnell korrigiert werden. Wenn ein Artikel aber tendenziös sei, müsse man Änderungen gut begründen, damit die anderen sie akzeptieren. „Es ist mir nicht gelungen, diese Tendenz zu stoppen“, bilanziert Krebs.

Am 5. Februar 2006 wird der „Neoliberalismus“-Artikel 32 Mal bearbeitet. Wikipedia-Nutzer können an diesem Tag 32 unterschiedliche Versionen sehen. Philipp Krebs wird das zu anstrengend, er klinkt sich aus der Debatte aus. Einen Tag später sind es 40 Versionen.

Er hat aufgegeben. „Was ändert es an der Welt, ob jetzt das eine in der Wikipedia steht oder das andere?“, fragt er. Der scharfe Ton, der unter den „Neoliberalismus“-Enzyklopädisten herrscht, habe ihn nicht rausgeekelt. „Das ist das Gleiche, wie wenn ich mich mit der FDP hier auf den Marktplatz stelle und mir die Leute erzählen, wie schwul unser Vorsitzender ist“, sagt er.

Krebs, der immer wieder Neutralität im Artikel anmahnte, ist Schatzmeister der örtlichen FDP. „Die Kritiker des Neoliberalismus sind häufig Anhänger politisch gescheiterter, undemokratischer oder restriktiver Denkmuster, deren Menschenbild die Kontrolle des Individuums durch staatliche Institutionen der Freiheit und Verantwortung des Einzelnen überordnet“, ergänzte er im November 2005. Wegen Änderungen wie diesen warf ihm der Benutzer „Anorak“, IT-Spezialist aus Berlin, vor, selbst „nicht ganz NPOV“ zu sein. Das ist Wikipedianisch für „Neutral Point of View“, also neutral.

Natürlich, antwortete Krebs damals. „Aber wer ist das schon?“

Der Schiedsrichter

22. Februar 2009, 23.49 Uhr. Der Enzyklopädist „FelMol“ ergänzt einen Halbsatz im Artikel „Neoliberalismus“. Zehn Stunden später löscht der Enzyklopädist „Mr. Mustard“ diese Änderung. In den vergangenen Monaten hatten die beiden immer verbissener gestritten.

23. Februar 2009, 10.44 Uhr. Administrator „NebMaatRe“ schreibt auf der Diskussionsseite: „Ich sehe hier schon wieder Anfänge eines Edit-Wars. Ohne das ‚Problem‘ vorher auszudiskutieren. Ich bitte daher um die Fortführung der zwischenzeitlich eingesetzten Diskussion. Belege und inhaltliche Diskussionen sollten das Ziel sein. Ich bin mir sicher, dass ihr einen Konsens finden werdet.“

23. Februar 2009, 11.09 Uhr. „FelMol“ schreibt den Halbsatz erneut in den Artikel.

23. Februar 2009, 11.34 Uhr. Administrator „NebMaatRe“ sperrt den Eintrag für drei Tage.

Andreas Köhler hat sich verspätet an diesem Abend beim Wikipedia-Stammtisch in Braunschweig. Erst, als die anderen Enzyklopädisten ihre Fleischspieße schon gegessen haben und über Mittelalter-Einträge diskutieren, betritt Köhler die Vorstadtkneipe „Charly’s Tiger“. Groß, grau melierte Haare, braune Lederjacke. In der Wikipedia ist er bekannt als „NebMaatRe“. Endlich treffe sie ihn mal, sagt eine Frau. Köhler nickt, leicht verschämt, und bestellt ein Bier. „Ich bin nicht so der Stammtisch-Typ“, sagt er, als die anderen nicht hinhören. Auffallen ist nicht sein Ding.

Andreas Köhler alias „NebMaatRe“ saß am 22. Februar vor seinem Rechner und beobachtete, wie sich ein Edit War entwickelte, ein Bearbeitungskrieg. Einer ergänzt etwas, ein Zweiter löscht es, der Erste fügt es wieder ein, im Stunden- und Minutentakt. „NebMaatRe“ warnte die Kontrahenten. Erfolglos. Am nächsten Tag sperrte er den Artikel für Bearbeitungen jeglicher Art. Damit alle mal ein bisschen runterkommen.

Diese Macht ist ein Privileg der Administratoren, der Schiedsrichter der Wikipedia. Wenn sich die Enzyklopädisten in die Haare bekommen oder einer über die Stränge schlägt, greifen sie ein: sperren ein Benutzerkonto oder einen Artikel. Inhaltlich einmischen dürfen sie sich nicht. Denn eine Instanz, die entscheidet, was in einem Artikel steht, soll es in der Wikipedia nicht geben. Anders als klassische Lexika ist die Online-Enzyklopädie basisdemokratisch organisiert. Die Intelligenz der Masse ist ihre Grundlage.

Nach dem Ausstieg des Ingenieurs Philipp Krebs 2006 hatte sich die Stimmung unter den „Neoliberalismus“-Enzyklopädisten weiter verschlechtert. Die Enzyklopädisten, die den Neoliberalismus als wirtschaftshistorischen Begriff protegieren möchten, stritten mit denen, die ihn als ungerechte Wirtschaftspolitik kritisieren. Das grüne Sternchen, das den Artikel einst als „exzellent“ auszeichnete, war längst verschwunden. Stattdessen fügten Autoren immer häufiger rote Warnhinweise ein: „Die Neutralität dieses Artikels oder Abschnitts ist umstritten.“

Allein im Jahr 2007 sperrten Administratoren den Artikel acht Mal. Die letzte Sperre dauerte fast fünf Monate, doch sobald der Artikel im März 2008 wieder für Bearbeitungen offen war, begann alles von vorn.

2009 sieht Administrator Köhler über die Statistiktools der Wikipedia, dass im „Neoliberalismus“-Artikel Edit-Pingpong gespielt wird, wie er es nennt. Er sperrt ihn. Nicht nur am 23. Februar. Auch am 4. März. Und am 7. März. Ohne dass sich die Autoren beruhigen. Am 8. März macht er den Artikel unbefristet dicht und sperrt die Konten von zehn Wikipedianern, die besonders penetrant pöbelten. Für immer.

Der „Neoliberalismus“-Artikel ist zu etwas geworden, das die Wikipedianer „Honey Pot“ nennen. Einträge, die Rüpel geradezu anziehen. Bei denen es mehr um Weltanschauungen geht als um Fachwissen. Besonders kontroverse Einträge über Religionen oder Politik – aber auch Homöopathie. Themen, bei denen jeder meint, mitreden zu können.

Beim Wikipedia-Stammtisch macht Andreas Köhler einen so ruhigen Eindruck, dass man sich vorstellen kann, wie er die Polemik-Wogen der Wikipedia glättet. Zwei Jahre ist er gewählter Administrator. „Man braucht schon ein dickes Fell“, sagt er.

Wenn er einen Artikel sperre, lese er gar nicht, worum es genau gegangen sei, sagt er, auch nicht beim „Neoliberalismus“. Köhler arbeitet bei einer Bank in Braunschweig. Seit 2007 ist er Wikipedianer, bastelt an Artikeln über Ägyptologie und Astronomie. Zwei Hobbys, über deren Schnittmenge er gerade ein Buch schreibt. Bei der Recherche stieß er auf die Wikipedia und begann, was er fand, zu ergänzen. Unter den Ägyptologie-Enzyklopädisten geht es ruhig zu. Konstruktiv. Streit gibt es selten.

Bei anderen Themen legen die Wissenskämpfer „Sockenpuppen“ an. Das sind Zweitkonten, die einige eröffnen, um ihrer eigenen Argumentation in der Wikipedia Schützenhilfe zu geben. Die meisten der zehn Konten, die Köhler nach dem Ärger um den Neoliberalismus-Artikel gesperrt hat, waren Sockenpuppen. Nach einer Weile erkenne man die einzelnen Enzyklopädisten wieder, sagt er: an ihren Themen, der Schreibe, dem Argumentationsstil. Und an ihren Rechtschreibfehlern. Die anderen beim Braunschweiger Stammtisch nicken.

Vier Stunden am Tag verbringt Köhler mit der Online-Enzyklopädie, schätzt er. Seine Frau und die Tochter störe das nicht. Davor sei er eben in einem Verein aktiv gewesen.

Der Eulenspiegel

7. März 2009, 15.37 Uhr. „NebMaatRe“ verändert den Schutz von „Neoliberalismus“: Ablauf der Vollsperre.

7. März 2009, 15.41 Uhr. „Fossa“ fügt eine Änderung ein. Unter der Überschrift:„Definitionsproblematik: reingekritzelt, dass neoliberalismus doof ist“.

Auf einem Wikipedia-Treffen in einem Backstein-Schulhaus in Lüneburg. Wenn er als Atheist sich mit Hardcore-Christen anlege, könnten sie sich doch nie einigen, sagt Thomas König. Dann könne man die Leute auch aus der Wikipedia ekeln. König lehnt sich zurück und guckt, wie der Mediator reagiert. Der schaut hilflos in den Stuhlkreis. Eineinhalb Stunden hat er sich bemüht, dreißig Enzyklopädisten beim Workshop „Konflikte in der Wikipedia“ zu erklären, wie sie solche Streitereien vermeiden. Und dann kommt dieser Typ mit der eckigen Designerbrille, unter der sich jetzt ein Klassenkaspergrinsen breitmacht.

Viele Enzyklopädisten kennen König unter dem Wikipedia-Namen „Fossa“. Weil er auf die Kacke haut. Weil er einer der aktivsten Autoren der deutschsprachigen Wikipedia ist. Allein am 7. März 2009 bringt er es auf 67 Änderungen – in den Einträgen zu Richard Dawkins Buch „Der Gotteswahn“, zum Eurovision Songcontest, zum Skoda-Modell „Garde“, zur Stadt Pljevlja in Montenegro. Und zum Neoliberalismus.

Nur Minuten nachdem der Administrator Andreas Köhler den Eintrag wieder zur Bearbeitung freigegeben hat, schreibt „Fossa“ in eine Betreffzeile: „reingekritzelt, dass neoliberalismus doof ist“. Am Eintrag selbst verändert er gar nichts.

Es wäre einfach, „Fossa“ als Wikipedia-Troll abzutun. Aber Thomas König tut all das auch aus Forschungsinteresse. „Das ist mein Job“, sagt er beim Autorentreffen in Lüneburg. König ist Mitte vierzig, trägt Anzughosen zum Wikipedia-Shirt und einen Doktortitel. Er lehrt an der britischen University of Surrey Soziologie und forscht zur Wikipedia.

Er schreibt ernsthaft an Artikeln über den Balkan mit. Anderswo betätigt er sich als Enzyklopädie-Eulenspiegel. Versucht, Diskussionen aufzulockern. Wirft Witzgranaten in bittere Debatten. „Die Wikipedia nimmt sich selbst zu ernst“, findet er.

König will mehr Streit, auch, um die Wikipedia zu öffnen. Mit abgehobener Sprache erreiche man nur Bildungsbürger. Wo seien denn die Krankenschwestern in der Wikipedia? Die Migranten? Viele Wikipedianer seien Nerds. Die große, mächtige Enzyklopädistengemeinde? Er winkt ab: „Die deutschsprachige Wikipedia-Community ist viel kleiner als vierstellig.“

„Es sollte ein Bedeutungsmonopol errichtet werden“

PHILIPP KREBS ALIAS „MINISTER“

Das Problem beim „Neoliberalismus“: Viele Ökonomen unter den Enzyklopädisten hätten keine Lust mehr mitzuschreiben, sagt König. Und: „Das linke Lager hat sich selbst zerlegt. Zu viele Sockenpuppen.“

Der Verbissene

Diskussionsseite zum Artikel „Neoliberalismus“, 15. August 2009, 12.10 Uhr. Mr. Mustard schreibt: „(…) Inwiefern das Alles für den Artikel Neoliberalismus irgendwie relevant sein soll, konnte bisher noch niemand nachvollziehbar begründen, geschweige denn belegen. FelMol hat dies bereits mit großer Aggressivität im Artikel Soziale Marktwirtschaft durchgedrückt, weil es sein ganz persönliches Lieblingsthema ist. Lassen wir nicht zu, dass er auch noch diesen Artikel verhunzt.“

15. August 2009, 12.38 Uhr. FelMol schreibt: „In der Aggressivität und im „Verhunzen“ von Artikeln stellst Du mich doch weit in den Schatten.“

Am Telefon meldet sich eine Stimme. So leise, dass man das Ohr auf den Hörer pressen muss. Es fällt schwer, diese Stimme mit dem polternden Enzyklopädisten „Mr. Mustard“ zu verbinden. Dem Wikipedianer, der seit Jahren so manisch an dem „Neoliberalismus“-Eintrag arbeitet. „Ich bin vielleicht etwas temperamentvoll, damit habe ich mir bestimmt viele Feinde gemacht“, sagt die leise Stimme.

Auch nachdem der Administrator „NebMaatRe“ den Artikel Neoliberalismus im März 2009 gesperrt hatte, hörten die Kämpfe nicht auf. Vor allem „Mr. Mustard“ und „FelMol“ fetzten sich. „Dumme Lügen“, „Ehrabschneider“. Für etwas Entspannung sorgte eine Studie zweier US-Wissenschaftler, die den Bedeutungswandel des Begriffs Neoliberalismus untersuchen – von der liberalen Philosophie hin zum antiliberalen Slogan. Diese Studie haben alle Streithähne als Quelle akzeptiert und so nach Jahren den größten Konflikt um den Eintrag befriedet. Die fachlichen Differenzen um den „Neoliberalismus“ sind entschärft. Nicht aber die persönlichen.

Im Februar 2010 wird ein Wikipedia-Vermittlungsausschuss gegründet, ein Schlichtungsmechanismus für harte Streitfälle in der Enzyklopädie. Nach mehreren Monaten Diskussion scheiterte er. „Es ging da nicht so sehr um den Artikel, sondern um den Streit zwischen zwei Blöcken“, sagt „Mr. Mustard“. Seinen Klarnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Wohl auch, weil er zu viel Ärger mit anderen Autoren hat.

„Mr. Mustard“ sagt, er arbeite lange am „Neoliberalismus“-Artikel mit. Als „OB-LA-DI“, von 2005 bis 2008, stritt er an der Seite des Lörracher Mechatronikers Philipp Krebs. Dagegen, dass Neoliberalismus als politischer Kampfbegriff dargestellt wird. Er habe dieses Benutzerkonto bei der Wikipedia abgemeldet, „weil es mir zu blöd wurde, dass Leute mich verfolgt haben und alle meine Edits geändert haben“, sagt er. Machte einige Monate Pause. Und meldete sich als „Mr. Mustard“ wieder an. Wieder eine Beatles-Referenz.

Je länger man mit „Mr. Mustard“ über die Wikipedia spricht, desto häufiger fällt das Wort Sucht. „Blöd eigentlich, sich mit Leuten herumzustreiten, die ich für intellektuell minderbemittelt halte“, sagt er. Mindestens vier Stunden täglich investiere er in die Online-Enzyklopädie. „Meine Hauptmotivation ist, dass das, was da drin steht, richtig ist. Aber eigentlich steht das in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den ich dafür betreibe.“ Er flüstert fast.

Schuld sind aus seiner Sicht die, die „Mr. Mustard“ seine Feinde nennt. Vor allem FelMol. Der Ton in der Wikipedia sei allgemein scharf, aber in der Konstellation mit ihm und FelMol noch schärfer.

„Ich denke mir immer: Egal, morgen höre ich eh auf“, sagt „Mr. Mustard“. „Aber dann mache ich das doch nicht“. Wenn er einem Feind eine reingewürgt habe, „dann erwische ich mich mit einem Grinsen von einem Ohr zum anderen“. Die anderen wüssten nicht, was für einer er sei, sagt „Mr. Mustard“. Dass er Grüne wähle. Dass er gerne auf Technopartys gehe. Dass er an der FH Betriebswirtschaft studiert habe.

Freunde sagen, er solle einfach aufhören. Aber was wissen die schon – von der Wikipedia.

3. Januar 2011, 16.53 Uhr. „FelMol“ macht eine Änderung von „Mr. Mustard“ rückgängig mit dem Kommentar „Vermisse neuere Diskussion, die die vorgenommenen Revisionen rechtfertigte“.

Nach 15 Minuten macht „Mr. Mustard“ die Änderung von „FelMol“ rückgängig. Es dauert weitere 63 Minuten, bis „FelMol“ sie erneut einfügt. 47 Minuten später löscht „Mr. Mustard“ sie.

Meike Laaff, 30, ist tazzwei-Redakteurin und plant nun ihren ersten Wikipedia-Eintrag

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